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Aber wie hätte Hresh für das Ritual seines Namenstages aus dem Kokon treten sollen, wo er doch längst schon draußen war?

Der alte Ritus war sinnlos geworden. Der Tag der Namensgebung allerdings war wichtig. Und wieder einmal begriff Torlyri, daß es an ihr lag, ein neues Ritual zu erfinden. Es war irgendwie seltsam und auch ein wenig beunruhigend, diese Aufgabe: einfach ein neues Ritual zu erfinden. Waren denn auch alle die alten Riten auf diese Weise entstanden? fragte sie sich. Von Priesterinnen jeweils für den Notfall erfunden? Oder vom Alten Mann? Um einem plötzlich auftretenden Bedürfnis zu genügen? Und waren sie überhaupt in keiner Weise göttliche Fügung?

Aber der Gott — so beruhigte sie sich — spricht durch den Geist der Opferfrau.

Nun, so sei es denn. Sie erbat Urlaub von Koshmar und ging für sich allein zurück zu dem See des Wasserschreiters und kniete dort nieder vor Dawinno und erflehte von ihm Weisung. Und Dawinno schenkte ihr ein neues Ritual. Und es sprang hell und quellenklar in ihrer Seele auf.

Während sie da so kniete, erschien der Wasserschreiter wieder. Sie blickte furchtlos zu ihm hin, während er sein gewaltiges spilleriges Selbst entfaltete. Sie lächelte. Du könntest mir nichts antun, auch wenn du es wolltest, dachte sie. Aber auch wenn du es wirklich vermöchtest, so würde ich dich einfach anlächeln, und du würdest mir nicht ein Haar krümmen wollen. Der Wasserschreiter betrachtete sie düster und leicht schwankend aus seiner großen Höhe. Und dann hatte sie den Eindruck, als lächle er ihr zu, als sei ihm ihre Anwesenheit hier durchaus angenehm.

Sie nickte ihm grüßend zu.

„Mögen die Fünf dir nahe und hold sein, Freund“, sagte sie. Und der Schreiter lachte; aber sein Gelächter wirkte irgendwie freundlicher als beim erstenmal.

Als Torlyri ins Lager zurückkehrte, sah sie droben einen Schwarm jener Geschöpfe kreisen, die Thaggoran ‚Blutvögel‘ genannt hatte und die den Stamm weit drüben in den Flachländern mehr als einmal belästigt hatten, wo sie das wandernde Volk mit ihren Schnäbeln aufzuspießen versucht hatten. Sie erinnerte sich an das schreckliche Herabstoßen, an das schrille Kreischen, an die Wunden, die sie geschlagen hatten. Aber diesmal fühlte sie, daß kein Anlaß zu Panik bestehe. Sie blickte den Blutvögeln ebenso furchtlos entgegen, wie sie es bei dem Wasserschreiter getan hatte, und sie hielten sich weit entfernt und hoch droben und kreisten, ohne herabzustoßen.

Ja, das ist der rechte Weg, so müssen wir an diesem Ort hier leben, dachte sie. Tritt den Geschöpfen ohne Furcht entgegen, begegne ihnen — wenn du kannst — mit Liebe. dann werden sie dir nichts Böses antun.

„Also“, erklärte sie Koshmar, „das neue Ritual ist folgendermaßen: Ich werde mit ihm fortgehen ins Gehölz, weit fort vom Stammeslager, an einen Ort, wo wir ganz allein sind und wo uns nur die Geschöpfe des Waldes umgeben. Das wird dann so sein wie in den alten Tagen das Heraustreten aus dem Kokon. Und dort wird er die Opfer vornehmen für die Fünf Erhabenen, und dann muß er hintreten vor irgendein Geschöpf der Wildnis, es ist nicht weiter wichtig, was für eins es ist, eine Schlange, ein Vogel, ein Wasserschreiter, irgendein Wesen, solang es nur uns Menschen unähnlich ist. und er wird hin treten vor dieses Geschöpf in friedlicher Weise und wird ihm seinen neuen Namen sagen.“

Koshmar blickte verwirrt drein. „Und wozu soll das gut sein?“

„Es bedeutet, daß wir ein Volk sind in der Welt und zu der Welt gehören und daß wir uns wieder in das Leben der Geschöpfe der Welt eingliedern. Daß wir in Liebe und ohne Furcht auf sie zutreten und nun, da der Winter vergangen ist, gern ihre Welt mit ihnen teilen möchten.“

„Aha!“ sagte Koshmar. „Ich verstehe.“ Aber Torlyri erriet aus der Art, wie sie es sagte, daß Koshmar nicht überzeugt war.

Jedenfalls, es war an der Zeit, daß Hresh seinen Namenstag habe, es gab keinen Kokon, aus dem er hätte hervortreten können, und dies war der neue Ritus, den Torlyri sich ausgedacht hatte, und immerhin war sie die einzige Opferfrau, die das Volk zur Verfügung hatte. Also, wer hätte sagen können, das neue Ritual sei irrig oder falsch? Und so unterrichtete Torlyri Hresh, was er zu tun habe, und sie machten sich gemeinsam und nur zu zweit in der Dämmerung auf den Weg. Hresh trug eine Opferschale in der Hand, und während sie dahinzogen, sammelte er Blüten und Beeren als Gaben für die Götter.

„Sag mir, wenn wir am rechten Ort sind“, bat er.

„Nein, du mußt es mir sagen“, antwortete Torlyri.

Seine Augen glühten vor Lebenslust und Lebenskraft. Torlyri hatte das Gefühl, niemals zuvor einem Wesen begegnet zu sein, das dermaßen voller Leben war, wie dieses Kind, dieser Knabe es war, und das Herz quoll ihr über, so voll Liebe war sie für ihn. Ganz gewiß, es strömte die Kraft von den Göttern durch seine Adern!

„Hier ist es“, sagte Hresh.

Es war düster an dem Ort, den Hresh gewählt hatte, denn die Wipfel der Bäume droben waren durch Geflechte von Schlingpflanzen, von Reben, dicker als ein Mannsarm, zusammengeheftet. Der Boden war feucht und weich. Sie hätten sehr wohl die einzigen Menschen in der Welt sein können.

Hresh kniete nieder und begann sein Opfer.

„Und nun will ich meinen Neuen Namen annehmen“, sagte er.

Dann begab er sich auf die Suche nach einem Geschöpf, das sein Namenstier sein sollte; und nach einiger Zeit kam ein Wesen von anständigen Ausmaßen auf die Lichtung getrabt; ein Tier, etwa von der Größe eines Rattenwolfs, aber bei weitem hübscher anzusehen. Es hatte leuchtende Augen, einen länglichen zugespitzten Schädel und zwei schaufelartige goldene Stoßzähne neben der Schnauze, und dazu noch eine Reihe hellgelber Streifen entlang des bräunlichgelben Rückens. Die Beine waren schlank und endeten in je drei scharfkralligen Zehen: Höchstwahrscheinlich ein im Erdreich grabendes Tier, eines, das sich von Insekten ernährte. Es schaute ihn an, als habe es noch zuvor so etwas wie ihn erblickt.

Er trat nahe heran.

„Dein Name ist Goldzahn“, sagte Hresh.

Das Tier starrte angstlos, vielleicht neugierig zurück.

„Und ich“, fuhr Hresh fort, „ich bin Hresh-der-voller-Fragen-steckt, und heute ist mein Namenstag, und ich habe dich als mein Namenstier erwählt. Und so sage ich dir hiermit feierlich, Goldzahn, daß ich den Namen wähle — und er lautet Hresh! Hresh-der-Antwortfinder!“

Torlyri atmete heftig ein. Was für eine Keckheit von dem Knaben!

Hin und wieder geschah es zwar, daß jemand seinen Geburtsnamen auch als Erwachsenennamen beibehielt, aber es war selten, ja es war beinahe unerhört, und wer so etwas wagte, der verriet damit eine innere Zuversicht, ein Selbstvertrauen, die fast an bedenkenlose Kühnheit grenzte. Hresh, der sich den Namen Hresh wählt! Hatte es je einen Menschen gegeben wie dieses Kind Hresh?

Und doch — und dennoch. war es denn wirklich der selbe Name? Vor dem Hresh-voller-Fragen, und das war der Name, den andere ihm angehängt hatten, und nun Hresh-der-Antwortfinder. und diesen Namen hatte er sich selbst gewählt.

Er redete mit dem Goldzahn, stand ganz dicht bei ihm, streichelte und tätschelte das Tier. Dann klopfte er ihm auf den Schenkel, und das Tier trabte davon und verschwand im Unterholz. Er wandte sich Torlyri zu.

„Also?“ fragte er. „Habe ich nun meinen rechtmäßigen Namen?“

„Du hast deinen rechtmäßigen Namen, ja.“ Sie zog ihn ganz fest an sich und umschlang ihn. ‚,Hresh-Antwortfinder... das ist dein Name.“ Er ließ sich die körperliche Nähe ein wenig zögernd, ein wenig steif gefallen, als bereite ihm ihre heftige Zuneigung Unbehagen. Sie gab ihn frei und sagte: „Komm jetzt! Wir müssen zum Lager zurück und den anderen sagen, was du dir erwählt hast. Und dann wird es auch allmählich Zeit, daß wir uns auf die Suche nach dem berühmten Vengiboneeza machen.“