„Nicht menschlich?“ stammelte Hresh, den Tränen nahe und mit einem Gefühl von Winzigkeit und Häßlichkeit. „Nicht — menschlich? Nein. Nein. Das kann nicht sein.“
„Was soll das?“ mischte sich Koshmar endlich ein. „Was sind das für Geschöpfe da? Saphiräugige, oder? Und sie sind noch am Leben?“
„Nein“, sagte Hresh, der sich allmählich wieder fing. „Es sind Künstliche in der Gestalt von Saphiräugigen. Nur die Torwächter von Vengiboneeza. Aber hast du gehört, was sie sagten, Koshmar? Ganz verrücktes Zeug? Daß wir keine Menschlichen seien. Daß wir Affen seien, oder Abkömmlinge von Affen, daß unsere Sensororgane nichts weiter seien als Affenschwänze, und daß die wirklichen Menschen von hier fortgezogen...“
Koshmar blickte bestürzt drein. „Was ist denn das für ein Unsinn?“
„Sie sagen.“
„Ja, ich hab gehört, was sie sagen.“ Sie wandte sich Torlyri zu. „Was hältst du davon?“
Die Opferfrau war sichtlich verwirrt, sie blinzelte, lächelte nervös, runzelte die Stirn. „Das sind sehr alte Geschöpfe. Vielleicht verfügen sie über Wissen, das.“
„Das ist absurd“, sagte Koshmar grob. Sie machte eine Bewegung zu Hresh hin. „Du da! Chronist! Du hast die Vergangenheit studiert. Sind wir Menschliche oder nicht?“
„Ich weiß es nicht. Die ganz frühen Chroniken sind sehr kompliziert. Die Menschen sind fort, sagen diese Künstlichen hier“, murmelte Hresh. Er fröstelte trotz der Wärme. Die Augen waren ihm heiß und wie geschwollen; jeden Augenblick konnten die Tränen hervorbrechen.
Koshmar schien sich vor Zorn zu blähen. „Und was wären dann Menschliche, wenn wir keine sind?“
„Die Künstlichen sagen, sie haben keinen Schwanz — keine Sensororgane. und daß sie keinen Pelz haben.“
„Dabei handelt es sich um eine andere Art von Menschlichen“, sagte Koshmar und erledigte mit einer wegwerfenden Handbewegung dieses Thema. „Ein anderer Stamm, längst schon verschwunden, falls es ihn je gegeben hat. Woher sollen wir wissen, daß sie je gelebt haben? Wir haben nichts als das Wort dieser — dieser Dinger da, dieser Künstlichen. Mögen sie sagen, was immer sie wollen. Wir wissen, wer wir sind.“
Hresh sagte nichts. Er mühte sich, das aus den Chroniken erlangte Wissen zu Rate zu ziehen, aber in seinem Kopf stiegen nur nebelhaft vieldeutige Bruchstücke herauf.
„Wir sind die Kinder des Herrn Fanigole und der Herrin Theel, die uns in den Kokon führten“, sagte Koshmar heftig. „Sie waren menschlich und wir sind menschlich. Und so ist es und so bleibt es. Basta!“
Von den saphiräugigen Künstlichen ertönte wieder das zischende Gelächter.
Koshmar fuhr wild zu ihnen herum. Sie vollführte eine zornige weitausholende Armbewegung, als schöbe sie Spinnengewebe beiseite, die ihr vor dem Gesicht in der Luft hingen. „Wir sind Menschliche“, wiederholte sie, und sie sagte es schrecklich und furchtbar. „Und möge kein Geschöpf — sei es lebendig oder künstlich — dies leugnen!“
Hresh hing zwischen leidenschaftlicher Zustimmung und betäubtem Unglauben in der Schwebe. Ihm war, als flattere seine Seele unsicher auf und ab. Nicht menschlich? Keine Menschen? Was bedeutete dies? Wie konnte das sein? Ein Affe, nichts weiter als ein Affe, eine etwas höhere Affenart? Nein. Nein. Nein. Er blickte zu Torlyri, flehte um Beistand, und die Opferpriesterin nahm seine Hand in ihre Hände. „Koshmar hat recht“, flüsterte sie. „Die Saphiraugen wollen uns nur beirren. Koshmar spricht die Wahrheit.“
„Ja“, schrie Koshmar, die sie gehört hatte. „So lautet die Wahrheit. Wenn es jemals hier Menschliches gegeben haben sollte, die kein Fell hatten und keine Sensororgane, nun, dann waren sie Bastarde und Mißgeburten, ein Irrtum der Götter, und sie sind jetzt verschwunden. Wir aber, wir sind hier. Und wir sind menschlich, gemäß dem Recht des Blutes, gemäß dem Gesetz der Generationenfolge. So lautet die Wahrheit. Bei Yissou, es ist die Wahrheit!“ Und sie trat vor und stellte sich vor den drei mächtigen Reptilien mitten im Tor auf. „Was habt ihr dazu zu sagen, ihr Saphiräugigen? Ihr sagt uns, wir seien keine Menschlichen? Aber sind wir denn nicht jetzt die einzigen Menschlichen? Menschen von einer anderen Art als jene, die ihr gekannt zu haben vorgebt, das vielleicht, aber auch Menschliche von einer besseren Art: Denn sie sind dahin, falls sie denn überhaupt jemals gelebt haben, und wir, wir sind hier. Wir haben ausgeharrt, während sie es nicht taten. Wir haben bis zum Ende des Winters überlebt, und nun werden wir die Welt wieder von dem Hjjk-Volk zurückerobern, oder von wem immer, der sich ihrer vielleicht in den Zeiten der Kälte bemächtigt hatte. Was sagt ihr dazu, ihr Saphiräugigen? Sind wir etwa keine Menschen? Und dürfen wir nicht in das Große Vengiboneeza einziehen? Was sagt ihr?“
Es trat ein langes qualvolles Schweigen ein.
„Ich sage es euch noch einmal“, verkündete Koshmar unerschütterlich. „Wenn wir nicht die Menschlichen sind, wie ihr sie gekannt habt, so sind wir doch jetzt die Menschen. Gesteht es zu! Gesteht! Menschen gemäß dem Recht der Nachfolge. Es ist unser schicksalhaftes ererbtes Recht, diese Stadt zu besitzen. Denn wo sind sie, jene, die ihr die echten Menschlichen nennt? Wo? Wo? Wir aber sind hier! Und so sage ich euch denn: Wir sind jetzt die Menschen.“
Immer noch Schweigen, gewaltig und tief. Hresh dachte bei sich, daß er Koshmar nie zuvor so majestätisch erlebt hatte.
Der mittlere Saphiräugige, der bisher zum fernen Horizont gestarrt hatte, wandte sich nun Koshmar zu. Lange betrachtete er sie mit reserviertem Interesse.
„So sei es denn“, sagte das Kunstgeschöpf schließlich, und genau in dem Augenblick, als werde die Luft selbst unter der Spannung krachend auseinanderbersten. „Ihr seid von nun an die Menschen.“ Und das Ding schien irgendwie zu lächeln.
Sodann verneigten sich die Reptiliengestalten und gaben den Weg frei.
Sie haben uns nachgegeben, dachte Hresh, von Freude und Staunen überwältigt. Sie sind uns gewichen!
Und Koshmar, die Führerin, reckte ihr Sensororgan hoch empor wie ein Zepter und führte ihre kleine Horde von Menschen durch das Tor und auf die leuchtenden Türme Vengiboneezas zu.
6. Kapitel
Die Kunst des Wartenkönnens
In wundersamem Staunen bezogen Koshmar und ihr Volk Wohnung in der großen Stadt der untergegangenen Saphiräugigen.
In Trümmern und zerfallend war Vengiboneeza noch immer ein Ort, dessen Pracht das Vorstellungsvermögen aller weit überstieg. Die Lage war vorzüglich, in einer geschützten Senke, die nördlich und zum Teil auch östlich von einem goldbraunen Gebirgswall abgeschirmt war, während südlich und östlich schützend der dichte Dschungel lag, durch den der Stamm soeben gezogen war, und im Westen ein dunkler See — oder vielleicht ein Meer — von solcher Weite, daß es unmöglich war, bis an das andere Ufer zu spähen. Von Westen her wehten beständig warme Winde und trugen Feuchtigkeit von dem Wasser heran. Die Regen fielen häufig, und das Land grünte üppig. Es war Winter, die Zeit der kurzen Tage, die zugleich auch die Regenzeit zu sein schien, und sie war wirklich außerordentlich naß. Aber tagsüber war die Luft mild, und Frost gab es nur in ganz wenigen Nächten, und auch dann nur in der Stunde kurz vor der Dämmerung. Als die Tage länger wurden, trat eine sichtliche Wachstumssteigerung ein, und die Witterung wurde sogar noch wärmer. Alles war nun sehr anders als während jener ersten erbärmlichen Monate nach dem Auszug aus dem Kokon, als sie die trostlosen kahlen Weiten im Herzen des Kontinents durchqueren mußten. Es war eindeutig: Die Zeit des Langen Winters war vorbei. Keiner zweifelte nun mehr daran.