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Vengiboneeza war überall ringsum, weitgestreckt, gewaltig, unbegreiflich, eine in sich geschlossene, in ehrfurchtgebietendem Schweigen ruhende Welt. Vom Gestade des Meeres bis an den Rand des Dschungels und zu den waldbedeckten Vorbergen des Felsmassivs breitete sich die tote Stadt in alle Himmelsrichtungen aus, ohne erkennbare Planung, ohne erkennbare Geordnetheit. In einigen Teilen liefen die Straßen als breite offene Boulevards mit grandiosem Ausblick auf die Berge oder die See dahinter; in anderen Stadtbezirken waren die Straßen ein Geflecht winzigkleiner Alleen, die sich in verzweifelter Intimität ineinander wanden oder von hohen Mauern abgesperrt waren, die den direkten Zugang zu darunterliegenden Plätzen abriegelten. Vielerorts ragten hohe Türme auf, meist dichtgedrängt in Reihen zu zehnt oder zwanzig, manchmal aber — und dies waren dann die höchsten gewaltigsten Türme — standen sie in erhabener Vereinzelung über einer Umgebung von niederen Flachbauten mit grünen Kachelkuppeln.

Besonders direkt an der Küste lagen weite Stadtbezirke in Trümmern; doch vieles hatte auch standgehalten.

Der Lange Winter hatte hier weniger Narben hinterlassen als in den ungeschützten Ebenen im Osten, jedoch gab es auch hier der Narben genug. Während der Winterzeiten war die See mehr als einmal hochgegangen und hatte die näheren, tieferliegenden Bezirke überschwemmt. Man konnte an hohen Wänden uralte graue Wassermarken sehen, und auf Balkonen in Höhe der zweiten Stockwerke lagen Strudelteppiche von Sand und Geröll. Auf den Flachdächern häuften sich die verstreuten, zerschmetterten Knochen von Seegeschöpfen wie Schneedriften. Auch wurde deutlich, daß einst träge kriechende Eisflüsse von den Bergflanken herabgeflossen sein mußten und die Bauten in den höhergelegenen Bezirken ineinandergeschoben und zermalmt hatten. Auch sah es so aus, als wäre die Erde selbst aus ihren Tiefen heraufgebrochen und habe in vielen Teilen der Stadt die Straßendecke senkrecht aufgestülpt, Bauten gefährlich schiefgekippt oder zerquetscht, so daß sie in zerschmetterten Trümmerstücken und Scherben regenbogenfarbigen Metalls umherlagen.

„Wunderbar dabei ist aber“, sagte Torlyri, „daß überhaupt etwas übrig ist, nach diesen ganzen siebenmal hunderttausend Jahren.“

„Es hat sich bestimmt jemand darum gekümmert“, sagte Koshmar. „Das kann gar nicht anders sein.“

Und dies schien wirklich der Fall zu sein. Vielerorts sah man Anzeichen von Reparaturarbeiten, ja sogar von Wiederaufbau in größerem Umfang, als rechneten die Hüter der Stadt jederzeit mit der Rückkehr der Saphiräugigen und mühten sich, die Stadt einigermaßen empfangsbereit für sie zu machen. Aber wer waren diese Hüter? Nirgendwo sah man Anzeichen von Mechanischen oder Künstlichen irgendwelcher Art: der Ort schien vollkommen verlassen zu sein, bis auf die drei gewaltigen Wächter vor dem Tor, und die verließen ihren Posten niemals.

„Suche in den Chroniken!“ befahl Koshmar dem Hresh. „Und sage mir dann, auf welche Weise diese Stadt gewartet und erhalten wurde.“

Und er suchte höchst eifrig. Zwar entdeckte er eine ganze Menge über die Gründung und die Hochblüte von Vengiboneeza, aber nicht den geringsten Hinweis auf ihr Fortbestehen. Alles in allem hätten es auch die Gespenster der Saphiräugigen selbst sein können, die durch die Straßen huschten, um das Nötige zu tun.

Anfänglich wagte sich der Stamm noch nicht in die entfernteren Bezirke der Stadt vor. Koshmar führte sie nur gerade so tief in die Stadt, daß sie sich vor den Geschöpfen des Dschungels sicher fühlen konnten, nicht jedoch so weit, daß sie sich in dem Labyrinth zerstörter Straßen hätten verirren können. Später war noch Zeit genug für solche riskanten Unternehmungen; vorläufig galt es vor allem, Geduld zu wahren in diesen ersten Tagen voller Rätsel. Siebenhundertmal tausend Jahre lang hatten sie die Geduld aufgebracht, in einem einzigen Kokon in einem Berghang zu überleben. Koshmar selbst war keine außergewöhnlich geduldige Frau, doch sie bemühte sich unablässig, die Kunst zu meistern, die jeder weise Häuptling erlernen muß: das Wartenkönnen.

Sie suchte ein Viertel in der Nähe des Südtores aus, das nicht allzu stark zerstört war. Hier erhob sich ein prachtvoller sechseckiger Turm aus glattem blauroten Stein mit zahlreichen Fenstern über einem ausgedehnten Bezirk jener kleinen Gebäude mit den grünen Kuppeln. Diese wies sie mit — wie sie meinte — beträchtlichem Führungsgeschick den Stammesmitgliedern zu. Jedem der Zuchtpaare wurde ein eigenes Haus zugeteilt. Die Krieger bekamen ein Gemeinschaftsquartier, auf daß sie sich beständig auf die Füße treten mußten, wobei sie zum Teil diese ruhelose Energie loswerden konnten, die sonst vielleicht zu Ärger führen mochte. Den älteren Stammesangehörigen erlaubte man, in Dreier- und Vierergruppen zusammenzuhausen, damit sie sich gegenseitig um den anderen kümmern könnten, und sämtliche Kinder brachte man in einem Haus, direkt angrenzend an das der unverheirateten Arbeiterinnen, unter. Für sich selbst und Torlyri bestimmte Koshmar das dem großen Turm nächstgelegene Haus. Der Turm sollte der Stammestempel werden, und später, wenn sie erst einmal die Stadt durchstreiften, konnte er ihnen als Wahrzeichen dienen, um sie wieder sicher in ihren Heimatbezirk zurückzuführen, denn es hatte den Anschein, daß es keine Gegend in Vengiboneeza gab, von der aus man ihn nicht hätte sehen können.

Es war die glücklichste Zeit, die Koshmar je erlebt hatte. An jedem Tag mußte sie irgendeine Schwierigkeit lösen, irgendwelche Verordnungen erlassen, irgendwelche Entscheidungen treffen.

Im Kokon war sie oft von Unruhe und Unsicherheit erfüllt gewesen. Ihr starker Drang nach Führerschaft war überwiegend unerfüllt geblieben. Von ihrer Kindheit an war sie für das Häuptlingsamt geformt worden, und sie benutzte ihre Fähigkeiten mit Scharfsinn und Stärke. Aber sie war ein Anführer, der seine Führerschaft nicht einsetzen konnte, denn im Kokon war alles viel zu glatt verlaufen. Gewiß, sie erfüllte die ihr zustehende Rolle bei sämtlichen Ritualen, sie hielt Gericht und sprach Urteile, wenn Zwistigkeiten oder Zank ausbrachen, sie fungierte als Rat und Stütze für die Schwachen und als Besänftiger der Starken und Starrköpfigen. Darin bestand ihr Leben und ihre Aufgabe als Stammesführerin im Kokon.

Doch sie hatte ihre Tage verstreichen sehen, ohne einen wirklichen Zweck, ohne Ziel, und sie hatte das Ende ihrer Tage auf sich zukommen sehen, ohne daß ihre innere Ruhelosigkeit Linderung gefunden hätte. Obschon sie mit dreißig noch so lebensvoll war wie ein junges Mädchen, wußte sie doch, daß es auch für sie keinen Weg gab, dem heransausenden Grenzalter zu entrinnen. Das Gesetz galt absolut. Nur der Chronist durfte zuweilen über sein fünfunddreißigstes Jahr hinausleben. Für Häuptlinge jedoch gab es da keine Ausnahmen. Koshmar hatte sich oft darüber Gedanken gemacht, wie das in ein paar Jahren sein würde, wenn man sie aus der Ausstiegsluke stoßen mußte, gleichgültig wie lebensstark sie noch sein mochte, auf daß sie draußen in der Welt ihren Tod finde.

All das war nun anders. Jetzt war es von vordringlicher Bedeutung, daß sie allesamt so lange wie nur möglich lebten, daß jene, die dazu in der Lage waren, Kinder zu tragen, sich eifrig dieser Aufgabe widmeten.

Manche vom Stamm verstanden das nicht, jedenfalls anfangs. Anijang, der der älteste von allen war, kam nicht lange nach dem Einzug in Vengiboneeza zu Koshmar und sagte: „Dieser Tag ist mein Todestag. Was soll ich tun? Allein in den Dschungel wandern?“

„Anijang, es gibt keine festgesetzten Todestage mehr!“ hatte Koshmar gesagt und dabei gelacht.

„Keine Todestage? Aber ich bin fünfunddreißig. Ich habe ganz sorgfältig mitgezählt.“ Er holte eine brüchige alte Lederschnur hervor, die mit Knoten übersät war. „Da, hier ist der Tag.“

„Ja, bist du denn nicht noch stark und gesund?“

„Nun.“ Er zuckte die Achseln. Seine Schultern waren krumm, und die Haare um die Schnauze begannen grau zu werden, aber für Koshmars Blick sah er noch recht gesund und munter aus.