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„Es besteht kein Anlaß, daß du sterben solltest, ehe die natürliche Zeit für dich gekommen ist“, sagte sie. „Wir leben jetzt nicht mehr im Kokon. Jetzt gibt es Platz für alle, und zwar solange sie leben können. Außerdem wirst du hier noch gebraucht. Es gibt hier viel zu tun für uns alle, und in Zukunft wird es noch mehr Arbeit geben. Wie könnten wir auf dich verzichten, Anijang?“

Der verwirrte, verlorene Ausdruck in den Augen des Alten verblüffte sie. Dann aber begriff sie, daß er schon vor langer Zeit seinen Frieden mit dem Tod gemacht hatte und nun nicht fähig war, die Gnadenfrist, den Aufschub willkommen zu heißen, ja nicht einmal ihn zu begreifen. Ihm, diesem durchschnittlichen, schlichten, denkträgen schwer schuftenden Mann, genügten die fünfunddreißig Jahre Leben. Er sah keinen Grund zum Weiterleben. Tod, das war für ihn nur ein unendlicher, friedlicher, angenehmer Schlaf.

„Ich soll also nicht gehen?“ fragte Anijang.

„Du darfst nicht gehen. Dawinno verbietet es.“

„Dawinno? Aber er ist doch der Vernichter.“

„Er ist der Ausgleicher“, sagte Koshmar. „Er gibt und er nimmt. Er hat dir dein Leben geschenkt, Anijang, und du sollst es noch viele künftige Jahre hindurch behalten.“ Sie ergriff ihn fest an den Armen und zog ihn an sich. „Freue dich, Mann, und juble! Du sollst lange leben! Geh und suche deinen Tvinnr-Gefährten und feiert diesen Tag!“

Mit schlurfenden Schritten ging Anijang davon. Er schien nichts zu begreifen; aber er würde sich fügen.

Manche andere, auch das wußte Koshmar, würden ähnlich verwirrt werden. Man würde das Problem mittels eines Häuptlingserlasses regeln müssen. Lange besprach sie sich mit Torlyri über das, was dabei zu erklären sein würde. Es fiel ihnen dermaßen schwer, die Formulierungen auszuarbeiten, daß sie schließlich ein Tvinnr vornahmen, wobei sie das nötige Tiefenverständnis fanden. Hierauf rief Koshmar den Stamm zusammen und verkündigte die Neue Ordnung.

Das Volk tue nicht recht, wenn es glaubte, daß die Götter jemals den frühen Tod von ihnen gefordert hätten. Sie gemahnte an die Lehren, mit denen sie erzogen seien. Die Götter hätten nur verlangt, daß das Volk auf ordentliche Weise im Kokon lebe, bis die Zeit des Auszugs gekommen war. Und da die Götter das Leben liebten, war es wichtig gewesen, daß ab und zu junges Leben in den Kokon Einzug halte; da aber der Stamm nicht leicht den Kokon erweitern konnte und weil die Nahrungsmittel knapp waren, hatten die Götter die Weisung erteilt, die Bevölkerung im Gleichgewicht zu halten. Fünfunddreißig Jahre und nicht mehr hatten sie leben dürfen, dann mußten sie den Kokon verlassen und sich ihrem Schicksal ausliefern, damit neues Leben Einzug halten könne. Für jedes Neugeborene ein Tod. Und keiner, verkündete Koshmar, bezweifelte jemals die Notwendigkeit und Weisheit dieser Anordnung.

Aber die erbarmungsvollen Götter brachten sie nun gnädig aus dem Kokon heraus in die Welt, und die alten Einrichtungen waren nicht mehr angemessen. Die Welt war riesenhaft groß — der Stamm war klein; Nahrung war leicht zu finden. Und deshalb war es nun das Verlangen der Götter, daß das Volk fruchtbar sei und sich mehre. Der Tod würde für jeden kommen, wenn es dem Willen der Götter so gefalle, aber nur dann. Dieses Jetzt, sagte Koshmar, sei die Zeit des Lebens, die Zeit der Freude, die Zeit des Wachsens für den Stamm.

„Und wie lange werden wir dann leben von nun an?“ fragte Minbain. „Werden wir ewig leben?“

„Nein“, erwiderte Koshmar. „Nicht ewig. Nur für die natürliche Zeitspanne, wie lang sie eben sein mag.“

„Schön“, sagte Galihine, „aber wie lang ist das?“

„So lange, wie vordem die Chronisten gelebt haben“, erklärte Koshmar. „Denn sie allein erfüllten ihre natürliche Lebenszeit.“

Immer noch blieben die Gesichter ausdruckslos.

„Ja, und wie lang ist denn das?“ wiederholte Galihine.

Koshmar warf Hresh einen Blick zu. „Sag mir, Knabe, wie lautete der Name des Chronisten, der die Lade vor Thaggoran hütete?“

„Thrask“, sagte Hresh.

„Thrask, ach ja. Ich hatte das vergessen, weil ich bei seinem Tod noch sehr jung war. Kaum einer unter euch war in Thrasks Tagen schon geboren, aber ich sage euch dieses, er lebte, bis er alt war und gebückt und bis sein Pelz ganz und gar weiß war. Und dies ist die natürliche Zeit.“

„Alt und gebückt sein“, sagte Konya und schauderte ein wenig. „Ich bin nicht so ganz sicher, ob ich das möchte.“

„Für Krieger“, sagte plötzlich der junge Haniman ziemlich vorlaut, „wird die natürliche Zeit ganz bestimmt kürzer gemacht, Konya.“

Die Versammlung löste sich unter Gelächter auf. Koshmar erkannte, daß größere Unsicherheit herrschte, als sie vorausbedacht hatte: Der Tod bedeutet für manche die Befreiung, begriff sie, und ist nicht der brutale Abbruch des Lebens, als der er ihr erschien. Aber sie würden lernen. Sie würden mit der Zeit die neue Lebensweise erfassen. Aber auch wenn sie noch sich mit dem Neuen Denken herumschlugen, ihre Kinder würden es nicht mehr tun, und ihren Kindeskindern würde es schwerfallen, überhaupt nur zu glauben, daß einstmals ein Grenzalter und ein Sterbetag im Stamm wirklich Gesetz gewesen waren.

Koshmar sah auch, daß es nicht damit getan war, den Zwangstod abzuschaffen, sie mußte gleichzeitig auch die Produktion neuen Lebens fördern. Deshalb widerrief sie in einem weiteren neuen Gesetz die Geburtenbeschränkungen. Nicht länger mehr, verkündete sie, dürfe die Zeugung und Aufzucht von Nachkommen nur auf einige wenige Partnerpaare des Stammes beschränkt bleiben — und bei diesen gar jeweils auf nur ein einziges Kind, das gezeugt werden sollte, wann immer der Stamm Ersatz benötige für einen, der das Grenzalter erreicht habe. Nein, von nun an könne jeder, der das Tvinnr-Alter erreicht habe, Kinder in beliebig großer Anzahl haben. Nein, könne nicht bloß, sondern sollte sie haben. Der Stamm sei zu klein, dem müsse Abhilfe geschaffen werden.

Sogleich traten immer neue junge Paarungen vor Koshmar und ersuchten um die Kopulationsrituale. Als erste kamen Konya und Galihine, danach Staip und Boldirinthe. Dann — höchst überraschend — Harruel mit Minbain, die den Hresh von ihrem Partner Samnibolon getragen hatte, und Samnibolon war schon vor langem am Fieber gestorben. Gedachte Minbain allen Ernstes noch einmal an Kinder? Koshmar fragte sich, ob es jemals eine Frau im Stamm gegeben habe, die zwei Kinder zur Welt brachte, und noch dazu von verschiedenen Vätern. Aber was soll es, mahnte sie sich zum tausendstenmal, wir haben eine Neue Zeit. Und hatte sie nicht selbst verkündet, daß alle dazu Befähigten die heilige Pflicht hätten, Nachwuchs zu produzieren? Warum also nicht Minbain, die ja noch im fruchtbaren Alter stand? Warum nicht jede unter uns?

Und warum nicht du selbst, Koshmar? fragte überraschend eine Stimme in ihrem Innern.

Die Vorstellung war so seltsam, daß sie laut losprustete vor Lachen. Ich bin ein Häuptling, gab sie sich selbst Antwort und versuchte sich vorzustellen, wie sie mit riesig angeschwollenem Bauch in einer Laubhütte lag, umringt von hilfreichen Weibern, während ein Kind sich den Weg aus ihrem Leib zu bahnen mühte. Im übrigen konnte sie sich nicht einmal in den Armen eines Mannes sehen, seine Hände auf ihrer Brust, seine Hände, die ihre Schenkel spreizten. Oder — wie immer hatten sie es denn gern? Die Frau bäuchlings auf dem Boden liegend, und der Mann wirft sich mit seinem Gewicht über sie und nimmt sie von hinten — nein, nein, das war nichts für sie, für sie war die Führerschaft als Bürde schwer genug.

Aber warum nicht Torlyri? fragte die selbe Stimme.

Koshmar zog zischend die Luft ein und preßte die Fäuste in die Flanken, als hätte jemand ihr einen Bauchtritt versetzt. Die warme liebe Torlyri? Ihre Torlyri? Aber, sie war doch schon die Mutter obs ganzen Stammes, ihre Torlyri. Sie brauchte nicht auch noch selbst Kinder zu gebären. Wie hätte auch die Opferfrau Zeit für Kinderaufzucht finden sollen, wie? Sie hatte so vieles andere zu tun.