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Harruel wanderte eine Straße hinunter und dann durch eine andere wieder zurück; er hatte keine Ahnung, wohin er ging, und es kümmerte ihn auch nicht. Er spürte das scharfe kalte Licht des Mondes auf sich wie eine Peitsche, die ihn vorantrieb. Er hatte Minbain versprochen, er werde zurückkommen, und das wollte er auch. Aber nicht vor dem Morgengrauen. Er hätte doch keinen Schlaf finden können.

Diese Stadt war ein Kerker für ihn. Das Leben im kasernierten Kokon hatte er ziemlich unproblematisch gefunden und ertragen, weil ihm nie in den Sinn kam, daß es etwas anderes als dieses Leben geben könne. Jetzt aber, nachdem sie die Enge des Kokons abgeschüttelt hatten und er begreifen gelernt hatte, was es bedeutete, kühn und ungehindert unter dem freien Himmel zu schreiten, wurmte es ihn, daß er hier an diesem glattgeschniegelten Totenort festsitzen sollte, an dem es für seine Nase allzu stark nach dem vernichteten Volk der Saphiräugigen stank. Außerdem ließ es ihm die Galle schwellen und brannte ihm wie eine Feuerklette auf der bloßen Haut, daß er bis ans Ende seiner Lebenstage unter der Herrschaft dieses Weibes, dieser Koshmar, würde leben müssen.

Es war wirklich an der Zeit, daß die Weiberherrschaft beendet werde. Es war höchste Zeit, die Macht der Mannskönige neu zu errichten.

Aber leider, so schien es Harruel, würde diese Koshmar Häuptling sein und bleiben, bis er selbst alt und krumm und sein Fell ganz weiß waren. Denn es gab ja jetzt keine ‚Todestage‘ mehr. Koshmar war älter als er, aber sie war leider gesund und kräftig, und sie würde bestimmt noch sehr lange leben. Und nichts und niemand würde ihn je von diesem lästigen Weib in seinem Nacken befreien, es sei denn, er täte es höchstselbst mit eignen Händen; und an diesem Punkt setzte Harruel die Grenze. Es lag außerhalb seiner Möglichkeiten, jemals seinen legitimen Führer zu töten. Ja, allein die Vorstellung von so etwas überstieg bereits sein Begriffsvermögen. Dennoch würde er es nicht sehr viel länger ertragen können, sich Koshmars Herrschaft zu beugen.

In letzter Zeit hatte er sich angewöhnt, häufig allein und in weiten Streifzügen durch die Stadt zu streifen, in dem Bestreben, sie genauer kennenzulernen. Diese Stadt — sie war für ihn der ‚Feind‘. Und er hatte stets dem Prinzip gehuldigt, daß es von Wichtigkeit sei, seinen Feind zu erkennen und zu kennen. Heute allerdings war er zum erstenmal in der Nacht losgezogen.

Alles sah verändert aus. Die Türme wirkten höher, die niedrigeren Bauten erschienen ihm flacher. Straßen krümmten sich in unvertrauten Richtungen und Winkeln. In jedem Schatten lauerte etwas Bedrohliches. Aber Harruel wanderte fürbaß und immer weiter. Schließlich trug er seinen Speer. Und er war furchtlos.

Einige Straßen waren mit makellosen Steinplatten bedeckt, als hätten die saphiräugigen Bewohner sie erst vorgestern verlassen. Andere Straßen waren aufgebrochen und zerspellt, und grobe Gräser erhoben sich zwischen den Pflasterplatten. Und wieder andere waren gänzlich ohne Decke und waren nur mehr von Erdschlamm bedeckte Schneisen zwischen Reihen von zerbröckelnden Häusern. Er begriff diese Stadt nicht. Er verabscheute sie. Ihm wurde übel bei der Vorstellung, daß sein leiblicher Sohn hier geboren werden sollte, hier, an diesem scheußlichen fremden Ort, an dem so ganz und gar nichts Menschliches war.

Es gab Gespenster hier. Und während er so dahinstreifte, hielt er nach ihnen Ausschau.

Er war sicher, daß überall Spuk und Geister lauerten. Sie mußten die Leute sein, die die Reparaturen ausführten. Aber sie taten es nachts, wenn keiner sie dabei sehen konnte. Wie es schien, wurden willkürlich eingestürzte Gebäude abgesichert, erhielten neue Fassaden, wurden von Trümmern befreit. Er sah die Veränderungen hinterher. Auch einige der anderen hatten dies bemerkt — Konya, Staip, Hresh. Wer aber ordnete das alles an?

Er spähte auch scharf nach kriechenden, schleichenden, stechenden Nachtgeschöpfen aus. Die meisten Plagen, mit denen Vengiboneeza geschlagen war, verschwanden mit Einbruch der Dunkelheit, mit Ausnahme jener, die in den Bauten selbst hausten. Aber das hieß noch nicht, daß er sich vor ihnen völlig in Sicherheit fühlen durfte.

Früh an einem Abend vor gar nicht langer Zeit, als Harruel wieder einmal ruhelos umherwanderte wie heute, gelangte er an den Rand des warmen Meeres, das gegen die Westflanke der Stadt brandete, und hatte dort beobachtet, wie ein Heer von häßlichen grauen Eidechsenwesen aus dem Wasser gekrochen kam. Es waren bösartige kleine Geschöpfe mit schlanken röhrenförmigen Leibern, etwa so lang wie sein Unterarm, mit feisten fleischigen Beinen und knautschigen, grünen, hinter dem Hals gefalteten Flügeln, und in ihren hellen gelben Augen stand ein unheilschwangeres Glitzern. Sie gaben einen grollend-brummenden Ton von sich, drohend und ekelhaft, als stießen sie drohend seinen Namen aus: „Harruel! Harruel! Harruel! Heut werden wir dich zum Nachtmahl fressen!“

Wie eine dichtgedrängte Insektenschar rückten sie mit schnappgierigen Kiefern näher, bis sie nur mehr dreißig Schritt von ihm entfernt waren und er Umschau hielt, ob er nicht etwas fände, womit er sich verteidigen könnte. Zurückweichend hob er eine Handvoll Kiesel auf und noch eine und beschoß die Anrückenden damit, ohne sie jedoch zum Innehalten bewegen zu können. Als sie jedoch bis zu einer Reihe rechteckig geschnittener Grünsteinquader gelangten, die direkt unter seinem Standpunkt in die Ufermauer eingelassen waren und auf denen winzige rätselhafte Gesichter eingemeißelt waren, hielten sie plötzlich an, als wären sie wider einen unsichtbaren Wall gestoßen. Darauf machten sie trübselig-träge und bestürzt kehrt und strebten wieder dem Wasser zu. Vielleicht war ihnen die Witterung von einer noch ekelhafteren Tiergattung zugeweht, deren Schwarm sich jenseits dieser Trümmersäulen befand, dachte er. Oder — vielleicht mögen sie einfach nicht, wie ich rieche. Wie dem immer war, er begriff, daß er Glück gehabt habe, so leicht davonzukommen.

Bei anderer Gelegenheit sah er Wolken von Geflügelten in einem derart dichten Schwarm droben dahinziehen, daß sie in der Mitte des Tages das Firmament verdunkelten. Er hielt sie für diese wilden weißäugigen Wesen, die sie als Blutvögel bezeichneten und die seinerzeit drüben im flachen Land dem Stamm so zugesetzt hatten. Er stand gespannt da, bereit, sogleich zur Siedlung zu laufen und den Alarm zu geben, doch obgleich die Fluggeschöpfe unentwegt über der Stadt kreisten und kreisten, stiegen sie doch nie tiefer als bis zu den höchsten Spitzen der höchsten Türme herab.

Inzwischen befand er sich den Grünsteinsäulen ziemlich nahe, wo der Standort der Drei Wächter der Saphiräugigen war. Nicht weit entfernt lag vor ihm die Zufahrtschneise am Rand des Dschungels.

Ohne bestimmte Absicht schritt er auf das Südtor zu. Doch ein, zwei Minuten später blieb er wie gebannt stehen. Hinter sich vernahm er ein Geräusch, wie wenn jemand atmete und sich umherbewegte. Er packte den Speer fester. War etwa Minbain ihm gefolgt? Oder war es eines der Gespenster, die im geheimnisvollen Dunkel der Nacht durch die Stadt patrouillierten? Er wirbelte auf dem Absatz herum und spähte in die nächtlichen Schatten.