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Sie verlangte also nach Sicherheit, nach Bestätigung von ihm, ihrem Chronisten, von ihrem Stab und Stecken der Weisheit. Aber was hatte er ihr zu sagen? Er wußte über Wind und Stürme ebensowenig wie alle anderen. Er war aufgewachsen in dem Kokon, in dem keine Winde wehten. Vielleicht wäre Thaggoran in der Lage gewesen, die Omina zu deuten und Koshmar wahrzusagen, was die jetzige Lage betraf. Thaggoran, tief verwurzelt, eingebettet im Schatz der Überlieferung, war fast jeder Situation gewachsen gewesen. Aber er war eben ein alter und weiser Mann gewesen. Und Hresh war nur jung und klug und noch kein Mann — und das war durchaus nicht vergleichbar.

Es muß eine Methode geben, wie man das herausfinden kann, hatte Koshmar gesagt.

Und es gab einen Weg. Der Barak Dayir konnte ihm vielleicht die Wahrheit sagen; doch während der Wochen, die verstrichen waren, seitdem er zum erstenmal den Mut aufgebracht hatte, den schimmernden Stein aus seiner Umhüllung zu holen und sein Sensororgan um ihn zu legen, war er mit für ihn außergewöhnlicher behutsamer Zurückhaltung verfahren und hatte seine Bemeisterung des magischen Dinges nur minutenlang, in allmählichen Schritten ausgedehnt. Er hatte gelernt, wie man den Stein zum Leben erweckt und wie man den starken Zauberschwall der in ihm enthaltenen Musik auslöst, und er hatte gelernt, wie er seine Stärke gegen die Grenzen seines Bewußtseins branden lassen mußte. Aber weiter war er bisher nicht vorzudringen bereit und mutig genug gewesen. Man konnte ja leicht einsehen, wie schnell der Wunderstein ihn verschlingen konnte, wie leicht er seine Seele gänzlich in den Strom und Strudel der alles Verstehen übersteigenden Stärke verstricken konnte. Und wenn er sich erst einmal diesem Strudel preisgegeben hatte, gab es vielleicht kein Zurück mehr. Und deshalb hatte er sich dazu gezwungen, dem Unwiderstehlichen Widerstand zu leisten. Er hielt sein Denken wach, beweglich und war auf der Hut: stets sprang er hastig zurück, wenn der Gesang des Barak Dayir zu süß verführend und verlockend wurde. Zwar tauchte er jedesmal, wenn er den Stein hervorholte, ein wenig tiefer in sein Wesen ein, aber er achtete darauf, daß er nicht von seiner Seele Besitz ergreife, wie insgeheim fürchtete, daß es der Fall sein könne; aber deshalb wußte er auch, daß er noch weit davon entfernt war, dieses rätselhafte, geheimnisvolle Instrument zu beherrschen.

Der Sturm, der über uns gekommen ist, dachte er, ist die Strafe der Götter für meine feige Faulheit. Und wenn dieser Sturm vielleicht Koshmar dazu veranlaßt, in ihrem Schrecken sich zu erzürnen, dann werden die Götter sie führen, so daß sie ihren Zorn gegen mich richtet. Also muß ich handeln.

Er aber sagte: „Ich werde den Wunderstein um Rat angehen, Koshmar. Und er wird mir verraten, was dieser Wettersturz zu bedeuten hat.“

„Gut. Genau das hoffte ich, daß du tun würdest.“

Er lief eilends in den sechseckigen Turm, der jetzt der Heilige Tempel war, und dort in die Kammer, in welcher er die Lade mit den Schriften aufbewahrte — und wo er in letzter Zeit auch meistens schlief, denn er fand sich in dem Gemeinschaftsschlafsaal, in dem die übrigen unverheirateten jungen Stammesmitglieder hausten, nicht mehr so recht^ am Platz. Ohne Zaudern zerrte er den Wunderstein aus seinem Beutel. Über ihm krachte entsetzlich der Donner des Unwetters.

Er legte sein Sensororgan um den Stein und richtete rasch den Strahl seines Zweiten Gesichts darauf. Aufschub konnte nun nur noch einen Fehlschlag bewirken. Ab sofort drang von dem Stein diese fremdartige intensive Musik zu ihm, wie er sie ein dutzendmal und öfter erlebt hatte. Diesmal aber, da er wußte, daß er nicht schwanken dürfe, öffnete er sich und machte sich für diese Musik weit, wie es bisher nie so gewesen war. Er fühlte, wie die Musik von ihm Besitz ergriff — und er erlaubte es, daß er selbst in diese Musik überging, die Musik wurde.

Er war eine Säule aus reinem Klang und hob sich, ohne auf Widerstand zu stoßen, bis zum Dach der Welt.

Er schwang sich auf den Rücken des Sturms. Er ragte weit über Vengiboneeza empor wie ein Gott. Die Stadt erschien ihm wie ein Spielzeugmodell ihrer selbst. Die erhabenen Bergketten, die sie beschützten, kamen ihm nun nur wie schlichte niedere Bodenerhebungen vor. Das große Meer im Westen der Stadt war nichts weiter als eine bleigraue, windgezauste Pfütze, die halb versteckt unter schwarzen Wolkenwirbeln lag, die sich um seine Knöchel schmiegten. Jenseits erblickte er Land, und dahinter eine noch gewaltigere See, eine See, die sich schimmernd so gewaltig um die Krümmung der Welt bog, daß nicht einmal er — so kolossal groß er nun geworden war — die andere Küste ausmachen konnte.

Er sah die Sonne. Er erblickte den Himmel, blau und strahlend über dem Rücken des Sturms. Er spähte nach Osten, wo der Große Fluß lag und ihr alter Kokon, und er sah, daß dort die Luft klar war und daß dort die Wärme des Neuen Frühlings noch herrschte.

Es gab keinen Anlaß zu Ängsten. Der Barak Dayir hatte ihm verraten, was zu wissen ihm nottat. Nun konnte er wieder hinabsteigen und Koshmar die frohe Kunde vermelden.

Aber er blieb länger, als notwendig gewesen wäre. Es fiel ihm nicht leicht, die Herrlichkeit seines Höhenfluges wieder preiszugeben. Die Musik, die sein neues Selbst war, dröhnte majestätisch über die Welt, sie brach über das Meer herein und über das Land, über die Berge und durch die Täler in schrecklicher, in gewaltiger Größe. Er blickte zum Mond und streckte ihm eine tastende Klangranke entgegen, so leicht und unbeschwert, wie er in seinem früheren Leben die Hand nach einer Frucht an einem tiefhängenden Ast ausgestreckt hätte. Er wußte: es würde ein Leichtes sein, den Mond mit Klang zu umspinnen, ihn auf seiner Bahn zu verschieben, oder ihn näher an die Erde heranzuholen, oder ihn gar ganz zu zerquetschen. Aber er konnte auch den Mond völlig ignorieren und sich selbst in die Leere und Tiefe hinausschleudern und mitten unter den Sternen schwimmen. Nie hätte er sich eine derartige Macht vorstellen können. Der Zauberstein konnte einen zum Gott machen.

Und dann begriff er, warum der alte Thaggoran den Wunderstein so gefürchtet hatte, warum er gesagt hatte, er sei gefährlich. Es war nicht so, daß der Stein dem, der ihn benutzte, etwas Böses antun würde; aber seine Kraft war so gewaltig, daß durch sie dem Benutzer jegliches Urteilsvermögen abhanden kam und er — geblendet vom Glanz seiner erborgten Gottähnlichkeit — sich selbst sehr leicht Schaden zufügen konnte. Die Gefahr lag in der Maßlosigkeit.

Mit ihm bislang in seinem ganzen Leben unbekannt gebliebener Anstrengung hangelte Hresh sich wieder zurück. Er stieg wieder in seinen Leib hinab; er gab seine Gottheit auf und streifte sie ab. Er schrumpfte wieder in sein Selbst zurück, und lag dann da auf dem Steinboden der Kammer, schlaff und schwitzend, bebend und betäubt.

Nach einigem raffte er sich auf, verstaute den Stein in seinen Beutel und verbarg ihn an seinem Ort, und dann verschloß und versiegelte er die Lade mit achtsamerer Sorgfalt als gewöhnlich. Draußen fiel noch immer schwer der Regen, ja vielleicht strömte er sogar dichter als vordem, obwohl Hresh den Eindruck hatte, als sei er nun weniger wild und heftig, gewiß, ein hartnäckiges unablässiges Niederströmen von hämmernden Wasserfluten, aber doch eben nicht mehr ganz so wütend wie vordem. Noch immer war der Himmel dunkel, doch er glaubte, daß er hier und dort eine Aufhellung in der Finsternis ausmachen könne.

Hresh achtete des Regens nicht, sondern trabte hinüber zu Koshmars Haus. Torlyri war inzwischen ebenfalls dort, und die beiden Frauen kuschelten sich aneinander wie furchtsame Tiere. Nie zuvor hatte Hresh eine der beiden in solch einem Zustand gesehen: weit aufgerissene Augen, die Zähne schnatternd, das Fell geplustert und gesträubt. Als er eintrat, machten sie ein paar Anstalten, sich wieder in die Gewalt zu bekommen doch ihr Entsetzen blieb trotzdem weiterhin unübersehbar.