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Der Rauch kräuselte sich in die Höhe, und das blasse Abbild Thekmurs wirbelte dahinter in der Dunkelheit. Aber Thekmur sprach nicht, oder wenn sie sprach, so konnte doch Koshmar die Worte nicht hören.

Nur allmählich, Stückchen für Stückchen, war es Koshmar im Verlauf der verflossenen Monde bewußt geworden, daß sie mehr und mehr in eine graue farblose Verzweiflung versinke, oder doch in einen Zustand, der Verzweiflung so nahe, wie sie es zu empfinden vermochte. Dem Leben war der Antrieb nach vorn, die Zielstrebigkeit verloren gegangen, hier in Vengiboneeza. Alles schien stillzustehen und auf der Stelle zu treten. Und das Glücksgefühl, das sie in der ersten Zeit durchströmt hatte, während sie das Neue Leben in der Stadt organisierte, war inzwischen völlig dahingeschmolzen.

Im Kokon erwartete man, daß alles auf ewig unbeweglich und unveränderlich bleibe, statisch und im ausgewogenen Stillstand. Niemand stellte dieses Leben in Frage. Man wuchs heran, man tat genau, was einem zu tun aufgetragen wurde, man hielt sich an die Gebote der Götter, und man wußte, daß man zu seiner an- und zugemessenen Zeit sterben mußte, so daß andere den freigewordenen Platz einnehmen könnten; aber man begriff auch gleichfalls stets und immer, daß das eigene persönliche Leben vom ersten bis zum letzten Tag sich innerhalb der starren schützenden Mauern des Kokons abspielen werde und daß es in keinem grundlegenden Punkt verschieden sein könne von dem Leben, welches die Großeltern oder die Großeltern der Großeltern in ferner Vergangenheit über Tausende und Abertausende Jahre gelebt hatten. Ziel und Zweck deines Individuallebens war es nur, das ‚Leben des Volkes‘ weiterzutragen, ein Glied zu werden in der gewaltigen Verkettung der Zeitalter, die sich von der Epoche der Großen Welt dehnte bis zu der erhofften, erwarteten Neuen Frühlingszeit. Man erwartete als Individuum nicht, daß man selbst diesen Jungen Frühling noch erleben werde; aber ebenso wenig glaubte man an ein persönliches Leben außerhalb des Kokons.

Nun aber war (ungeachtet der gelegentlich aufsteigenden Zweifel) der Neue Frühling erschienen. Die Welt entfaltete sich wie eine Knospe zur Blüte. Und das Volk war aufgebrochen und dem entgegen gewandert. Der geweissagte erste Schritt aber, die erste Etappe in diesem Großen Auszug sollte der Aufenthalt in Vengiboneeza sein, und bisher hatte dieser Aufenthalt nichts weiter gebracht als Unruhe, Unbehagen und Unsicherheit. Sogar ihre Menschlichkeit war in Zweifel gezogen worden — durch jene abscheulichen verächtlichen Lügner, diese Künstlichen der Saphiraugen am Tor. Und obwohl Koshmar absolut überzeugt war, daß die Behauptung dieser drei seltsamen Wächter, daß das Volk nicht zu den Menschlichen gehöre, völliger Unsinn sein mußten, obwohl, wie sie argwöhnte, für einige der anderen im Stamm dieses Problem noch ungelöst blieb und Anlaß bot für eine große Angst und Aufgeregtheit des Herzens.

„Wie kann ich den Lauf der Dinge beeinflussen?“ fragte Koshmar die Frau, die vor ihr geherrscht hatte. „Mein Leben rauscht an mir vorbei; ich will die Welt mit meinen Armen an mich reißen, nun da sie uns gehört. Ich bin ungeduldig, Thekmur, ich komme mir eingesperrt vor, als lebten wir immer noch im Kokon!“ Etwas in ihrem Wesen sehnte sich danach, aus dieser Stadt fortzuziehen, weiterzuziehen, auch wenn sie nicht wußte, wohin; und dennoch verspürte sie gleichzeitig den Zauber Vengiboneezas über sich und fürchtete sich davor, hier fortzugehen, während sie gleichzeitig ein Sehnen nach neuen Wagnissen in der Fremde und weit fort in der Seele brannte.

Koshmar wußte, daß viele vom Stammesvolk hier durchaus glücklich und zufrieden waren. Aber diese waren Menschen, die überall glücklich und zufrieden sein würden. Anstelle des bedrängten, intensiven nach innen gewandten Lebens in der Welt des Kokons bot sich ihnen jetzt eine ganze gewaltige Stadt als Bühne. Sie hatten ein angenehmes Leben — aus den Gärten, die sie hier angelegt hatten, strömte Nahrung im Überfluß, und es gab Fleisch genug, das die Krieger von den Hängen des ‚Frühlingsberges‘, wie Hresh ihn getauft hatte, nach Hause brachten, wo es Wild aller Art zuhauf gab und die Jagd leicht war. Für diese Leute im Stamm war es eine Zeit des Frohlockens und der Leibesseligkeit. Sie tvinnerten, sie sangen und sie spielten. Sie paarten sich und brachten Nachkommen hervor. Die Zahl der Stammesangehörigen war bereits über siebzig, und in kurzem war mit der Ankunft weiterer Kinder zu rechnen. Und allesamt durften sich auf ein üppiges und angenehmes Leben freuen, ohne daß die grimmige Aussicht auf ein grausames Grenzalter nun ihr Glück schmälern konnte.

Andere allerdings waren nicht aus solchem milchsuppensanften Material. Koshmar erkannte durchaus, daß beispielsweise Harruel vor Ungeduld und Gier nach Veränderung geradezu kochte. Konya und einige der Jungmänner, wie Orbin, schienen mehr und mehr in seine Richtung zu treiben und unter seinen Einfluß zu geraten. Und Hresh, der allmählich zum Mann heranwuchs, war ihr mehr denn je ein Rätsel. Das Mädchen Taniane entpuppte sich auf einmal als Ränkeschmiedin, als Flüsterpropagandistin und ausgekochte Ausbrüterin von Träumen. Man konnte den Ehrgeiz direkt in ihren Augen funkeln sehen. Aber worauf richtete sich ihr Ehrgeiz?

Selbst Torlyri wirkte inzwischen abweisend und war wie eine Fremde. Sie tvinnerten jetzt nur noch selten, und wenn sie es taten, war es irgendwie eine verkrampfte, unergiebige Angelegenheit. Koshmar wußte, daß Torlyri sich partnerpaaren wollte; aber sie enthielt sich dem, vielleicht weil sie das Gefühl hatte, daß dadurch ihre Beziehung zu Koshmar leiden müsse, vielleicht weil sie als die Opferfrau des Stammes nicht absehen konnte, wie sie damit die Funktionen einer Ehepartnerin und Mutter würde in Einklang bringen können. Oder aber sie glaubte vielleicht, daß es im Volk keine Männer gebe, mit denen sie sich als passende gleichrangige Partnerin verbinden könne, nachdem sie so lange Zeit ihre Priesterin gewesen war. Was immer es sein mochte, es bewirkte Störung und Verstörung in Torlyri: und alles, was Torlyri beunruhigte, beunruhigte auch Koshmar.

„Was könnte ich tun, damit du zu mir redest?“ flehte sie Thekmur an. „Soll ich einem der Götter ein besonderes Opfer darbringen? Soll ich auf Pilgerschaft gehen? Soll ich Torlyri hierher bringen, und wir tvinnern und kommen euch dabei nahe?“

Aus irgendeiner Ritze in der Wand tauchte ein kleines Geschöpf auf, ein schmales blaues Tierchen mit schimmernder Schuppenhaut, langen zierlichen Beinen und leuchtend goldenen Augen. Beim Anblick Koshmars hielt es inne, schnüffelte in die Luft und richtete sich hoch auf den dünnen Beinchen auf und betrachtete sie eindringlich. Es war etwas Stilles und Sanftes an dem Geschöpf, der feuchte Blick war ruhig und ohne Furcht.

„Bist du zu mir gesandt?“ fragte Koshmar.

Das Tier beobachtete sie weiter schnüffelnd.

„Was bist du für ein Geschöpf? Hresh würde das wissen — oder doch so tun, als ob, und dir deinen Namen geben. Aber das kann ich auch selbst tun. Du bist das Thekmur, ja? Gefällt dir der Name? Thekmur war eine große Führerin. Sie fürchtete nichts, genau wie du.“

Das Thekmur schien zustimmend zu lächeln.

„Und sie war eine Führerin, die alles aushielt, genau wie du alles ausgestanden haben mußt“, sprach Koshmar weiter. „Denn du hast den Langen Winter durchlebt, wie? Du wirkst so zart, doch deine Art muß zäh sein. Die Saphiräugigen sind ausgestorben und die Seeherrscher sind tot und alle die anderen großen Völker sind ebenfalls nicht mehr, aber dich, dich gibt es noch. Nichts jagt dir Furcht ein. Nichts wird dir zuviel. Ich will deinem Beispiel folgen, kleines Thekmur.“

Auf einmal begann der Boden zu schwanken, eine seitliche schwingende Bewegung versetzte die ganze Kapelle ins Wanken. Früher hätte Koshmar sich wohl mit einem Satz ins Freie gerettet, in die Sicherheit; aber das Thekmur rührte sich nicht von seiner Stelle auf der anderen Seite des Altares, und sie hielt gleichfalls stand und wartete ohne Bestürzung auf das Ende des Bebens. Und es war auch kurz darauf wieder vorbei. Das kleine Tier schritt mit großer Würde aus der Kammer. Koshmar folgte ihm. Es war wenig Schaden entstanden, nur ein paar überhängende Balustraden einer Ruine waren herabgestürzt.