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Aber wir? dachte er. Das Volk? Gibt es denn von uns keine Spur in diesem gewaltigen Vengiboneeza?

Nirgendwo ein Hauch von uns. Uns gibt es hier nicht.

Es war eine niederschmetternde Erkenntnis. Das Volk, sein Volk, gab es einfach überhaupt nicht in dieser herrlichen grandiosen Großen Welt.

Er rang mit sich in Verzweiflung, diese Tatsache als gültig in sich aufzunehmen und sie zu verarbeiten. Er redete sich ein, daß die Szene, die er hier sah, sich aus einer unvorstellbar fernen Vergangenheit heraus entfalte, einer Zeit lange vor dem Auftreten der Todessterne. Vielleicht werden ganze Völker einfach geboren — wie Einzelwesen —, dachte er, und vielleicht war in dieser ur-fernen Zeit, in die ich gereist bin, unsere Gattung noch gar nicht erschaffen, und unsere Zeit ist noch nicht gekommen.

Das bot nur geringen Trost. Die tiefere Wahrheit dröhnte hallend wie ein Donnerecho in seiner Seele.

Ihr seid keine Menschen, was ihr seid — ihr seid Affen, oder die Abkömmlinge von Affen...

Und der Beweis bot sich ihm hier dar. Und noch immer nicht vermochte er ihn zu akzeptieren. Nicht menschlich? Keine Menschen? Sein Kopf wirbelte. Er wußte, was es hieß, ein Mensch zu sein, oder glaubte doch jedenfalls, daß er es wisse, und der Gedanke, von diesem gewaltigen Lebensstrang ausgeschlossen zu sein, der sich bis in die tiefsten Tiefen der Zeit erstreckte, bereitete ihm eine unerträgliche Qual. Er fühlte sich hilflos von allen Wurzeln abgeschnitten, dahintreibend, die ihn an die Welt befestigt hatten. Lange hing er schwebend und bewegungslos in einer Luftblase oberhalb des antiken Vengiboneeza. Er war benommen, bestürzt, ratlos.

* * *

Hresh hatte keine Vorstellung davon, wie lange er an dem Apparat in dem unterirdischen Gewölbe gestanden und die Schalter und Hebel umklammert hatte, durch die er sich die Große Welt in gewaltigen Sturzbächen durch sein betäubtes Hirn jagen lassen konnte. Nach einer Weile allerdings spürte er, daß seine Vision blasser wurde. Die glitzernden Türme wurden nebelhaft unklar, die Straßen lagen wie Schmelzbäche unter seinen Augen.

Er packte die Schalthebel fester. Es half nicht. Sein Geist hob sich nun aufwärts, zurück in die steinerne Wirklichkeit der Höhle unter dem Turm.

Und dann war das antike Vengiboneeza verschwunden. Hresh aber befand sich noch immer unter dem Zauber des Barak Dayir, und während er emporstieg, sah er in seiner Seele erneut das Muster der Ruinenstadt, genau wie er es beim Hinabsteigen erblickt hatte, diese ineinandergeschlossenen Ringe und die flammenden roten Lichterpunkte. Und auf einmal begriff er, was diese roten Punkte bedeuten mußten: sie bezeichneten die Stellen, an denen das Leben der Großen Welt sich noch immer unter den Trümmern erhalten hatte und brannte. Also, wo immer er diese glühenden Lichtpunkte sah, würde er auf verborgene Schätze stoßen, nach denen er auf der Suche war.

Aber jetzt besaß Hresh weder Zeit noch Kraft genug, sich damit zu befassen. Ihm war ganz schwummerig, und er fühlte sich sehr schwach. Dennoch erfüllte ein starkes Hochgefühl sein Herz und mischte sich in die tiefe Verwirrung, die Selbstzweifel und die Verzweiflung-Ungläubig blickte er sich in dem gewaltigen Gewölbe der Höhle um: trockener Lehmboden unter den Füßen, darüber Staub und Spinnweben in langen Strängen, wenig bröckeliger Schutt, das gedämpfte Licht, die halbsichtbaren Reliefstatuen in aberwitziger Üppigkeit die Wandungen hinauf wuchernd. Die Große Welt erschien ihm noch immer leibhaftig lebendig und wirklich vor dem inneren Blick, und der Ort hier wirkte nur wie ein fader, trübseliger Traum. Aber die Gewichtung verschob sich von Augenblick zu Augenblick mehr und mehr: die Große Welt entzog sich seinem Griff, und diese Höhle wurde zu der einzigen ihm faßbaren Wirklichkeit.

„Haniman!“ schrie er.

Seine Stimme kam brüchig, scheppernd und dünn aus seiner Kehle, und außerdem auch noch eine halbe Oktave zu hoch.

Hresh versuchte es erneut. „Haniman, hol mich rauf!“

Es kam keine Reaktion von oben. Er stierte in das dumpfe Schwarz hinauf, kniff die Augen zusammen, spähte. Er hörte leise scheppernde Geräusche von Bewegungen in den Wänden. Kein Laut von Haniman.

„Haniman!“

Er brüllte aus voller Lunge. Es folgte ein Geräusch wie von einem dünnen Regen. Regen, hier unten? Nein, das doch nicht, machte Hresh sich klar. Winzige Steinchen, Sand und Dreck, die sich von der Höhlendecke lösten. Einzig seine Stimme hatte sie losgelöst und niederregnen lassen. Und noch ein solches Brüllen, dachte er, und ich habe die ganze Decke auf dem Kopf.

Seine Nervenstränge schwangen wie die Saiten einer Laute. Er fragte sich, ob Haniman ihn in dieser Grabesgruft im Stich gelassen haben könnte — einfach so, indem er fortging und ihn da unten im Stich ließ, damit er vergammeln und krepieren müßte. Oder war er vielleicht nur losgezogen, um allein irgend etwas Interessantes zu untersuchen. Ja, vielleicht war es weiter nichts, als daß Hresh so tief unten war und Haniman sein Rufen nicht hören konnte? Yissou! Hresh überlegte sich, ob er noch einmal laut brüllen solle. Immerhin, die Lokalität hier hatte die Erdbeben in siebenmal hunderttausend Jahren überstanden, wieso sollte das hier jetzt von einem einzigen Ruf zusammenbrechen? „Haniman!“ brüllte er, und noch einmal. „Haniman!“ Und wieder erfolgte auf seinen Hilfeschrei nichts weiter als ein Regen feinen Trümmerschutts von oben.

Was sollte er tun? Hier verhungern? Nein! Hinaufklettern? — Wie?

Er dachte daran, sein Sekundärsensorium, das Zweite Gesicht, einzuschalten, um damit Hanimans Aufmerksamkeit zu erreichen. Das war strikt verboten, das Zweite Gesicht gegen einen Stammesbruder zu richten und damit seine geheiligte Intimsphäre in seinem Hirn zu verletzen. Aber sollte er denn hier unten vergammeln in dieser Düsternis? Oder rechtfertigte die Situation einen Verstoß gegen den Brauch?

Hresh konzentrierte seine Kräfte und schickte den Strahl seines Zweiten Gesichts aus.

Hinauf durch die Finsternis tasteten sich die Ranken seiner Wahrnehmung. Doch, ja, dort oben war jemand. Er fühlte Leben und Wärme. Haniman. — und er schlief selig! Dawinno soll ihn holen, der Scheißer war eingeschlafen!

Hresh versetzte ihm einen mentalen Puff. Droben regte sich etwas: Haniman brummte und murrte in sich hinein. Hresh empfing ein Gefühlsmuster von Haniman, der sich im Schlaf herumwälzte, sich vielleicht über das Gesicht fuhr, als wolle er einen ärgerlichen Traum fortwischen. Hresh stieß erneut zu, stärker diesmal. Haniman! Du Superarschidiot! Wach auf! Und noch einmal, noch fester. Und dann war Haniman wach. Ja, doch, da hockte er, und hatte die Augen offen. Durch Hanimans Augen sah Hresh den Boden des oberen Stockwerks. Ein absonderlicher Eindruck, so durch das Hirn eines anderen zu reagieren. Hresh wußte, daß er sich eigentlich zurückziehen müßte. Aber er blieb noch für einen Moment dort, aus lauter Neugier. Dieses Gefühl, Hanimans Bewußtsein um sich herum zu fühlen wie ein zweites Fell. Hanimans kleine Sehnsüchte und Bedürfnisse zu fühlen, seine zornigen Frustrationen. Zu entdecken, wie es sich anfühlte, damals, als feist und träge heranzuwachsen in einem Stamm, wo alle anderen schlank und agil waren. Völlig überraschend für ihn selbst fühlte Hresh eine Flut von Sympathie mit diesem Jungen in sich aufsteigen. Es war beinahe wie ein Tvinnr-Akt, und in gewisser Weise war es sogar viel intensiver und viel intimer. Seine Verärgerung über Haniman schwand deswegen nicht, aber nun war daraus so etwas wie Ärger über sich selbst geworden, eine mit amüsierter Nachsicht durchsetzte Gereiztheit.

Dann schüttelte sich Hanimans Bewußtsein wütend frei, schubste Hresh fort, und dieser zog sich hastig zurück, und beim Abbruch des Kontakts überlief ihn ein Frösteln.