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Dann waren sie oben und traten auf die Felszunge, auf der die Zitadelle in einsamer Majestät über Vengiboneeza brütete. Hresh überquerte den Teppich des kurzen dichten breitblättrigen Grases, das um den Bau herum wuchs, und trat an die Kante und spähte hinaus. Unermeßlich weit breitete sich unter ihm die Stadt und leuchtete in dem fahlen milchigen Winterlicht. Er blickte auf die zerbrochenen weißen Gebäudestümpfe hinab, auf zierliche Schwebebrücken, die zu Trümmerhügeln zusammengesunken waren, auf Straßenläufe aus schimmerndem Stein, durchsetzt von lebhaften Grün- und Blautönen, die sich bis zum Horizont dehnten. Schwer atmend vom Anstieg, stand Taniane dicht bei ihm.

„All dies habe ich gesehen, als es noch lebendig war“, sagte Hresh nach einer Weile.

„Ja. Haniman hat mir davon erzählt.“

„Es war absolut wunderbar. So viele Sachen, die sich gleichzeitig ereigneten, so viele verschiedene Leute, eine solche Energie. Erstaunlich. Und sehr niederschmetternd.“

„Niederschmetternd?“

„Ich hatte nie so recht begreifen können, was eine Hochzivilisation wirklich ist, bis ich die Große Welt erblickt hatte. Und mir war auch nie klar geworden, wie weit wir noch davon entfernt sind, zivilisiert zu sein. Ich hatte mir vorgestellt, das muß so ungefähr wie in einem Kokon sein, nur um vieles größer und mit mehr Leuten, die mehr Beschäftigungen nachgehen. Aber das ist es gar nicht, Taniane. Es besteht ein Unterschied in der Qualität, nicht bloß in der Quantität. Es gibt einen bestimmten Punkt, an dem eine Zivilisation sich erhebt, an dem sie beginnt, ihre Eigenkraft zu entfalten, und dann wächst sie aus sich selbst heraus immer weiter, nicht nur aus der Summe der Aktionen der Menschen, aus denen sie besteht. Kannst du mich überhaupt verstehen? Unser Stamm ist für so etwas viel zu klein. Wir haben unsere kleinen Aufgaben zu erledigen, und das tun wir, und am nächsten Tag machen wir es genauso, aber darin steckt nicht das gleiche Sinnpotential, nicht die gleichen Möglichkeiten der Umgestaltung, eines explodierenden Wachstums. Dazu braucht man eine größere Zahl von Leuten. Nicht bloß ein paar hundert. Man braucht Tausende — Millionen.“

„Aber das werden wir eines Tages haben, Hresh.“

Er zuckte die Achseln. „Bis dahin ist es noch sehr weit. Und zuerst gibt es ungewöhnlich viel Arbeit zu leisten.“

„Auch die Große Welt hat klein angefangen.“

„Ja“, sagte er, „das halte ich mir auch immer vor.“

„Also das war es, was deine Seele dermaßen bekümmert hat, seit du damals heimkehrtest, nachdem du geschaut hast, was du da geschaut hast?“

„Nein“, sagte Hresh. „Das war es nicht. Das war was anderes.“

„Kannst du es mir sagen?“

„Nein. Ich kann es keinem sagen.“

Lange blickte sie ihn schweigend an. Dann lächelte sie und berührte ihn sacht an der Schulter. Er schauderte unter der Berührung und hoffte, sie möge es nicht bemerkt haben.

Er drehte sich um und betrachtete eine Weile die Zitadelle. Diese massiven grünlich-schwarzen Wälle, die gigantischen Steinsäulen, das niedrige schwere Schrägdach: ein Bauwerk, das Macht und Stärke verriet, sogar Anmaßung und kolossale Selbstsicherheit. Hresh schloß die Augen und sah wieder die hochgewachsenen bleichen Unbehaarten, die Menschen aus seiner Vision, geistergleich durch diese türenlosen Mauern gleiten, nachdem sie sie mit einem Finger berührt hatten, als wären diese Mauern aus Dunst und Rauch. Wie hatten sie das bewerkstelligt? Und auf welche Weise könnte es auch ihm möglich sein?

„Dreh dich um!“ befahl er.

„Warum?“

„Ich muß etwas machen und will nicht, daß du es siehst.“

„Aber Hresh, warum wirst du denn auf einmal so geheimnisvoll.“

„Bitte!“

„Wirst du was mit dem Wunderstein machen?“

„Ja“, fuhr er sie ärgerlich an.

„Ach, den brauchst du vor mir doch nicht zu verstecken.“

„Bitte, Taniane!“

Sie schnitt ihm eine Grimasse, drehte ihm aber den Rücken zu. Er griff in seine Schärpe, zog den Barak Dayir hervor, und nach einem Augenblick der Unschlüssigkeit berührte er ihn mit der Spitze seines Sensororgans, und er hörte durch die Klüfte und Abgründe der Luft seine starke Zaubermusik heraufschwellen, bis sie seine Seele erfüllte. Er begann zu zittern. Er fing die Kraft des Steins ein und stellte sie ein und zentrierte sie, und auf den Mauern der Zitadelle begannen dichte rote, gelbe und weiße Wirbel aufzuleuchten. Tore, dachte er.

„Gib mir deine Hand“, sagte er.

„Was hast du vor?“

„Wir werden hineingehen. Gib mir deine Hand, Taniane!“

Sie starrte ihn seltsam an, dann legte sie ihre Hand in die seine. Der Wunderstein verstärkte seine Sinneswahrnehmungen derart, daß Tanianes Handfläche wie Feuer auf seiner Haut brannte und er die Heftigkeit der Berührung kaum zu ertragen vermochte; aber es gelang ihm irgendwie, und mit einem leichten Zerren führte er sie auf den nächstgelegenen Lichtwirbel zu. Dieser wich bei seiner Annäherung, und er trat ohne Schwierigkeiten durch die Mauer und zog Taniane hinter sich drein.

Im Innern öffnete sich gewaltiger leerer Raum, der von einem trüben gespenstischen Licht erhellt war, das von überall her, ohne sichtbare Quelle aufschien. Sie hätten sich in einer Höhle befinden können, die halb so weit war wie die Welt und halb so hoch wie ein Berg.

„Bei Yissous Augen“, wisperte Taniane. „Wo sind wir?“

„In einem Tempel, glaube ich.“

„Wem gehört er?“

„Denen.“ Hresh streckte die Hand aus.

Hoch in der Luft über ihnen bewegten sich Menschen umher, schwerelos wie Staubkörner. Sie schienen aus den Wänden aufzutauchen, und sie schwebten zu zweit und zu dritt in den Höheren Regionen des gewaltigen Raumes umher und schienen offensichtlich in ernste Gespräche vertieft, und dann verschwanden sie am gegenüberliegenden Ende wieder in der Wand. Sie ließen sich durch nichts anmerken, ob sie sich der Gegenwart von Taniane und Hresh bewußt waren oder nicht.

„Träumeträumer!“ murmelte sie. „Sind die wirklich da?“

„Vielleicht sind es nur Visionen. Aus einer anderen Zeit. Von damals, als diese Stadt noch voll Leben steckte. Oder aber wir träumen sie.“ Immer noch hielt er mit der einen Hand den Barak Dayir umklammert. Er steckte ihn wieder in seinen Beutel und hakte diesen an seiner Schärpe fest. Sofort verschwanden die Geistergestalten über ihren Köpfen, und man sah nichts weiter als die vier nackten rauhen Steinwände, die trüb in dem dünnen Geisterlicht glommen, das von ihnen selbst ausging.

„Was war los?“ fragte Taniane. „Wohin sind sie verschwunden?“

„Der Wunderstein hat sie uns vor Augen gebracht. Sie waren gar nicht wirklich hier, nur ihre Abbilder. Ein Schein über Tausende von Jahren herüber.“

„Ich versteh das nicht.“

„Ich auch nicht“, sagte Hresh.

Er machte ein paar vorsichtige Schritte bis zu der Wand, zu der Stelle, an der sie hereingelangt waren, und strich mit der Hand über den Stein. Er fühlte sich höchst unnachgiebig und etwas warm an, genau wie der Barak Dayir selbst auch. Ein Schauder lief Hresh das Rückgrat entlang. Nichts war hier in diesem ganzen riesenhaften Raum, gar nichts, keine zerschlagenen Bildwerke, keine umgestürzten Thronsessel, kein Hinweis auf irgendwelche Bewohner.

„Mir ist nicht gut hier“, sagte Taniane. „Gehn wir lieber!“

„Gut.“

Er kehrte ihr den Rücken zu und holte wieder den Wunderstein hervor, doch diesmal gab er sich keine besondere Mühe, ihn ihrem Blick zu entziehen. Sie schaute mit geweiteten Augen zu und schlug das Yissou-Zeichen. Und kaum hatte er den Stein berührt, da begannen die Wände wieder in hellem Licht zu erstrahlen und die gespensterhafte Luftprozession der Menschen hoch droben zog wieder dahin. Hresh sah, daß Taniane sie mit offenem Mund und ganz verdutzt beschaute. „Träumeträumer“, sagte sie noch einmal. „Sie sehen genauso aus wie er. Wie Ryyig. Wer waren sie?“