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An der Spitze jeder Verzweigung lag eine gerundete Kammer, und in jeder dieser Kammern hauste eine Kleinfamilie von Tieren, eine jegliche anscheinend in ihrer für sie natürlichen Umgebung, denn manche der Kammern waren trocken und wüstenähnlich, andere hingegen feucht und voll saftigen Laubwuchses. Man konnte durch diesen Baum des Lebens von einem Ast zum nächsten wandern, ohne die dort wohnenden Geschöpfe im geringsten zu stören.

Als der Stamm über die großen Ebenen zog, hatte Hresh derartige Tiere nicht gesehen. Doch sie ähnelten einigen, die er im Bestiarium, dem Buch der Tiere, in den Chroniken abgebildet gesehen hatte. Also mußten es wohl die Geschöpfe sein, die auf der Welt gelebt hatten, ehe die Todessterne kamen: die ausgestorbenen Tiere, die verschwundenen Mitbewohner der früheren Welt.

Da gab es riesenhafte gemächlich trottende schwarzrote Geschöpfe mit Hörnern wie Trompeten, die sich an den Spitzen zu weiten Schellen öffneten, und es gab da zierliche Langbeiner, mit fahlgelbem Fell und runden, erschreckten Augen, so groß, wie Hreshs Hand lang war, und da gab es auch wilde, kle ine niedrige und flache Kreaturen, die aus nichts weiter als aus Schnauze und Zähnen und Krallen zu bestehen schienen. Es gab da etwas Braungelbes mit schwarzen Streifen, das durch einen Morast watete, auf vier dürren Beinen hoch darüber stakte und mit seinem langen Hals und dem langen zähnestrotzenden Schnabel nach unten stieß, um unselige grüne Geschöpfe aus dem Schlick zu fischen.

Es gab dort rundliche trommelähnliche Tiere, die aus ihren prallgespannten Bäuchen fröhlich-dröhnende Geräusche von sich gaben. Es gab schlangenhafte Tiere mit drei Köpfen. Und scheue kleine mit gewaltigen Ohren, von grünem Moos und dichten winzigen flachen Blättern bedeckt, so daß Hresh nicht hätte sagen können, ob es sich um Tiere oder um Pflanzen handelte.

Er wanderte verwundert und benommen durch all diese Kammern, und ihre Vielfalt und Vielzahl verwirrte ihn. Eine schwere Traurigkeit kam über ihn, als er daran dachte, daß höchstwahrscheinlich alle dieser Tiere inzwischen von der Welt getilgt worden waren, es sei denn jemand hätte sie in einen Kokon gesteckt und bewahrt, so daß sie dort die eisigen Jahrhunderte abwarten konnten. Er bezweifelte dies allerdings. Nein, sie waren wohl alle dahin, tot und verschwunden mit den Saphiräugigen.

Bei einer Kammer fast an der höchsten äußersten Spitze des liegenden Lebensbaumes stieß er auf etwas, das ihn vollkommen überraschte: eine Gruppe von Geschöpfen, die aussahen wie Angehörige seiner eigenen Gattung und die ihren Lebensbeschäftigungen auf ziemlich ähnliche Art in einem verkleinerten Stammeskokon nachgingen.

Sie sahen nicht haargenau so aus wie Hresh selbst. Auf den ersten flüchtigen Blick hin schien es ja so, doch bei genauerer Inspektion erkannte Hresh, daß ihre Sensororgane dünner waren und in anderem Winkel am Körper hingen, daß die Ohren groß waren und weit hinten am Schädel saßen, was ihm außerordentlich seltsam erschien, und daß ihr Fell ungewöhnlich dicht und sehr grobhaarig war. Die Erwachsenen waren kürzer als die seines Stammes, und ihre Leiber waren nicht so untersetzt. Die Hände saßen in einem ungewohnten Winkel an den Gelenken und hatten lange schwarze Finger und grellrote Handflächen, nicht die rosafarbenen, wie Hresh sie hatte.

Er fühlte eine Beklemmung in der Brust. Diese Entdeckung war verheerend.

Es war, als stellten diese Tiere da eine frühere Version seines „Volkes“ dar, ein erster Entwurf. Sie waren ihm ebenso ähnlich, wie sie sich von ihm unterschieden. Doch vermochte er die Ähnlichkeiten eben nicht zu bestreiten. Die Verwandtheit. Ja, das waren Wesen ihm ähnlicher Art. Mußten es sein. Aber eben ur-uralt. So also hatte das ‚Volk‘ ausgesehen in den Tagen der Großen Welt.

Es stand geschrieben im Buch der Tiere, daß Dawinno-der-Zerstörer unablässig damit beschäftigt war, die Formen und Gestalt aller Geschöpfe der Welt zu verwandeln. Und diese Veränderungen waren so gering, daß man sie von einer Generation zur nächsten kaum wahrzunehmen vermochte, doch in dem Verlauf einer derart gewaltigen Zeitspanne konnten sie sich zu bedeutsamen Unterschieden aus wachsen. Und hier sah Hresh nun den Beweis dafür. Die Rasse, die nach dem Ende des Langen Winters aus den Kokons hervorgekrochen war, unterschied sich stark von jener, die sich dort vor siebenmal hunderttausend Jahren versteckt hatte.

Aber hinter dieser Wahrheit verbarg sich eine noch tiefere und viel bestürzendere. Hresh hätte sie gern ignoriert, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Aber es gab davor kein Entrinnen.

Es konnte kaum Zweifel daran geben, daß dieser Baum des Lebens da nichts weiter war als eine Sammlung von Tieren, die man hier möglicherweise zur Belustigung der Bewohner von Vengiboneeza angelegt hatte. Es gab hier keine Seeherren, keine Hjjks, keine Vegetalischen, keinen Vertreter eines der zivilisierten Völker der Großen Welt: nur ganz schlicht und einfach — Tiere. Und Hreshs eigene Urahnen befanden sich hier, mitten unter den Tieren.

Seine Muskeln zuckten in zorniger Abwehr. Aber es gab kein Ausweichen, die Beweise waren nicht zu leugnen. Stückchen um Stückchen, Schritt für Schritt hatte diese Stadt ihn gezwungen, das zu erkennen und anzuerkennen, was er so mühevoll zu unterdrücken versucht hatte, seit sein Volk Einzug in Vengiboneeza gehalten hatte: In den Tagen der Großen Welt war seine Rasse als keineswegs zu den Menschlichen gezählt, sondern als einfache Tiere angesehen worden, nicht von gleichem Rang wie die Sechs Völker. Hochentwickelte, überlegene Tiere möglicherweise, aber eben doch nur Tiere, die man auf diese Weise in Gefangenschaft zur Schau stellen durfte, als ein Objekt unter vielen anderen, hier an diesem Ort, wo man die Tiere der Vorzeit besichtigen konnte.

Hresh fühlte sich benommen, durcheinander, am Boden zerstört. Lange stand er in dumpfer Betäubung da und stierte stumm vor sich hin. Die Leute in der Kammer — nein, die Geschöpfe in der Kammer. diese Tiere, die seine Verwandten waren — beachteten ihn nicht. Aber vielleicht konnte keines der im Baum des Lebens zur Schau gestellten Tiere jene sehen, die gekommen waren, um sie anzusehen.

Er winkte ihnen zu. Er trommelte gegen die durchsichtige Wand ihrer Kammer. Mit rauher, brüchiger, trotziger Stimme: „Ich bin Hresh — euer Bruder! Ich bin gekommen, euch frohe Botschaft zu bringen. daß die Kinder eurer Kindeskinder die Erbschaft und den Besitz der Welt antreten werden!“ Aber die Wörter kamen wirr und stolpernd aus seinem Mund, und die Geschöpfe in der Kammer blickten nicht einmal auf.

Nach einiger Zeit stahl er sich davon und kehrte wieder nach draußen auf den Boulevard zurück. Er sah die grüne Zitadelle der Träumeträumer hoch über sich am Hang hocken. So düster das Bauwerk war, nun brannte es ihm mit dem wütenden Glast von tausend Sonnen entgegen. Er zuckte zusammen und wandte sich ab. Dort war der Ort für Menschen. Dies wußte er inzwischen mit zweifelsfreier Gewißheit. Ihr Tempel, ihre Herberge und ihr ganz persönliches Hauptquartier oder ihre Zentrale, oder was sonst. Ihr Ort, dachte er. Nicht der unsrige. Ein Ort für Menschen. Und was immer wir uns einbilden mögen, daß wir sind, das sind wir nicht.

Und wieder einmal glaubte er, das scheußliche zischelnde Lachen der Wächter am Stadttor zu vernehmen.

Kleiner Affe. Äffchen. Verwechsle nie deinesgleichen mit Menschen, Kind!

Er machte, daß seine Vision verblaßte, und tauchte aus dem antiken Vengiboneeza auf wie ein Ertrinkender, der sich mit heftigen Armbewegungen an die Oberfläche des Wassers rudert.

Nach seiner Rückkehr in die Siedlung sprach er mit keinem, nicht einmal zu Taniane, über das, was er gesehen hatte. Jedoch fühlte er sich seltsam ihr gegenüber, so als wäre er für sie durchsichtig. Sie starrte ihn aus der Ferne versteckt und zurückhaltend an, als wollte sie ihm zu verstehen geben: Du hast ein schreckliches Geheimnis in dir, das du nicht mit mir zu teilen wagst, aber ich kenne es schon.