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Aber auch eine Erleuchtung war ihm zuteil geworden: Er hatte Torlyri zeit seines Lebens gekannt, doch nun erkannte er, daß er sie nur ganz beiläufig und oberflächlich gekannt hatte. Eine gute Frau, eine freundliche Frau, sanft und liebevoll gegenwärtig im Stamm — die die Riten vollzog, mit den Göttern redete und allen Bedürftigen Trost und Labsal spendete, eine Art Mutter für alle. Ja, so war Torlyri. Doch nun hatte Hresh erkannt, daß es andere Wesenszüge in ihr gab. In ihr ruhte große Stärke, eine erstaunliche Festigkeit der Seele. Angesichts ihrer körperlichen Kraft — sie war beinahe so stark wie ein Krieger, und in mancher Hinsicht sogar stärker — hätte er damit rechnen müssen. Solche Kraft war oft die Spiegelung innerlicher Stärke, doch er hatte sich von Torlyris Wärme, ihrer Sanftheit, ihrer Mütterlichkeit dermaßen täuschen lassen, daß er dies nicht bemerkt hatte.

Daneben aber gab es auch gewöhnliche, menschliche Aspekte an Torlyri. Sie war nicht einfach nur Ritenvollzieherin und Trostspenderin, sondern außerdem auch eine Person mit privater Existenz, mit persönlichen Ängsten, Zweifeln, Bedürfnissen und Schmerzen. Und darüber nachzudenken hatte Hresh sich bisher nicht die Mühe gemacht. Beim Tvinnr mit ihr, gerade jetzt vor wenigen Minuten jedoch, hatte er ihr heftiges Verlangen nach einem Stammeskrieger entdeckt — nach Lakkamai, vermutlich; Torlyri und Lakkamai steckten in letzter Zeit beständig beisammen —, und er hatte herausgefunden, wie vielschichtig und kompliziert ihre Beziehung zu Koshmar war, und noch etwas. eine Leere in ihr, eine Ödnis, die damit zusammenhing, daß sie kein Kind geboren hatte. Sie war die Mutter für den ganzen Stamm und dennoch niemandes leibliche wirkliche Mutter, und dies schien sie zu bedrücken, wahrscheinlich auf derart verdeckte Weise, daß sie sich dessen selbst nicht bewußt war. Hresh aber erkannte dies jetzt, und dieses Wissen hatte ihn verändert. Er begann zu begreifen, wie schwierig und verwickelt das Erwachsensein ist. Es gab dermaßen viele Lebensaspekte, die einfach nicht leicht und glatt einzuordnen waren, sondern die umherzuckten und unterschwellige Störungen bewirkten, wenn man einmal erwachsen war. Dies war — vielleicht — die wichtigste Lehre, die er aus seinem Erst-Tvinnr mitnahm.

Also — Lust und Erleuchtung. Aber war es nicht auch irgendwie ein wenig enttäuschend gewesen? Doch, das ebenfalls. Es war nicht die erschütternde, Furcht und Ehrfurcht einflößende Erfahrung gewesen, auf die er gehofft hatte. Das Erlebnis war hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben, jedoch nur, weil er im Besitz des Wundersteins war. Beim Tvinnr erreichte man nur die Seele einer einzelnen anderen Person; mit der Hilfe des Barak Dayir hingegen kam man in Berührung mit der Seele der Welt. Schon bei seinen frühen unbeholfenen Versuchen mit dem Wunderstein war er hoch über die Wolken hinausgestiegen, er hatte über Meere hinweggeschaut, er hatte in die Zeiten vor der Ankunft der Todessterne hinabgespäht. Was bedeutete im Vergleich damit schon das Tvinnr?

Er machte sich klar, daß er ungerecht dachte. Der Barak Dayir eröffnete ihm nahezu unbegreifliche Weiten. Aber Tvinnr — das war eine ganz intime, persönliche Kleinwelt. Jedoch das eine bedeutete nicht die Negation des anderen. Und wenn er beim Tvinnr eine leise Enttäuschung verspürt hatte, so nur deshalb, weil der Wunderstein ihn bereits gelehrt hatte, wie er die Grenzen seines eigenen Denkens und Bewußtseins überschreiten konnte. Ohne diese Vorerlebnisse wäre ihm das Tvinnrerlebnis vermutlich als eine überwältigende Erfahrung erschienen. Aber der Wunderstein hatte ihn offenbar dafür untauglich gemacht, ihm sozusagen den Gaumen verdorben. Dennoch bestand kaum Anlaß, das Tvinnr auf die leichte Schulter zu nehmen. Es war etwas ganz Außergewöhnliches, etwas Erstaunliches.

Er nahm sich vor, so bald wie möglich ein weiteres Tvinnr zu veranstalten. Und zwar mit Taniane.

Dieser Gedanke sprang ihm mit derartiger Heftigkeit ins Gehirn und kam so urplötzlich, daß ihm davon die Luft wegblieb, wie wenn jemand ihm einen fürchterlichen Hieb zwischen die Schulterblätter versetzt hätte. Seine Kehle wurde strohtrocken, der Atem ging ihm stockend. Sein Herz begann zu hämmern und dumpf zu dröhnen wie eine Trommel, und so laut, daß es die anderen unbedingt hören müßten, glaubte er. Tvinnr mit Taniane! Was für eine erstaunliche Idee!

Für ihn war das Mädchen ein Rätsel. Schon seit langem hatte er eine Art mysteriöser Verbindung und Hingezogenheit zu ihr verspürt. Aber furchtsam hatte er sich dagegen gewehrt, weil es eine Ablenkung von seinen wesentlichen Aufgaben bedeutet hätte; und überdies hatte er auch befürchtet, er könnte dadurch zu etwas Üblem verführt werden.

Sie war inzwischen Frau, und eine schöne Frau, und außerdem verfügte sie auch noch über eine ungewöhnlich hohe Intelligenz. Und ehrgeizig war sie auch. Sie träumte davon, eines Tages Koshmars Rang als Stammeshäuptling einzunehmen, daran gab es wohl kaum Zweifel. Jeder mit nur einem Quentchen Grips mußte das erkennen, wenn er sah, mit welch neiderfülltem Blick sie Koshmar betrachtete. Und manchmal ertappte Hresh sie auch dabei, wie sie ihn aus der Ferne beobachtete, wie sie dabei so seltsam starrte, wie die Frauen es tun, wenn ein Mann sie interessiert. Und manchmal schaute auch er selber sie sich ganz fest an, aus der Ferne, und wenn er glaubte, sie habe ihn nicht bemerkt. Oft betrug sie sich kindisch ihm gegenüber und kokett. Sie lief ihm nach, sie verlangte, daß er sie auf seine Expeditionen in die Ruinen mitnehme, sie beschoß ihn mit Fragen, deren Beantwortung durch ihn für sie von höchster Wichtigkeit zu sein schien. Er wußte nicht so recht, wie er sich das alles deuten solle. Gelegentlich kam ihm der Gedanke, daß sie nur mit ihm spiele und daß sie eigentlich und wirklich an Haniman interessiert sei.

Und das wäre wahrlich unerträglich quälend gewesen — für einen Haniman als ihren Favoriten abzublitzen. Nein, das war ein Risiko, das einzugehen er keine Lust hatte.

Heute jedoch schien alles anders zu sein. Er hatte seine erste Tvinnr-Erfahrung hinter sich, und die ganze komplizierte Welt der Erwachsenen lag offen vor ihm. Er mochte ja der ‚Alte Mann‘ des Stammes sein, aber schließlich war er daneben auch noch ein junger Mann, und er sehnte sich nach Taniane.

Also begab er sich auf die Suche nach ihr.

Es war in der Mitte des Nachmittags, und es hatte aufgeklart und die Sonne schien. Das Himmelsdach schien auf und nieder zu schwingen, als hinge es an Schnüren. Die Ränder aller Dinge, die Hresh sah, wirkten verblüffend scharf, die Begrenzungen zwischen einem Objekt und dem nächsten waren wie mit dem Messer geschnitten. Die Farben vibrierten und pulsierten. Es war, als hätte das Tvinnr seine Seele für inendlich viele starke neue Eindrücke geöffnet.

Aus einer Seitengasse tauchte Orbin auf und kam pfeifend auf Hresh zugeschlendert.

Hresh hielt ihn an. „Hast du Taniane gesehen?“

„Da drüben.“ Orbin wies auf ein Gebäude, in dem einige der jüngeren Funde der Sucher aufbewahrt wurden. Dann wollte er weiterschlendern, blieb aber stehen und warf Hresh einen zweiten prüfenden Blick zu. „Stimmt was nicht?“

„Was nicht stimmen? Wieso?“ Hresh war ziemlich aufgeregt. „Was meinst du damit, was nicht in Ordnung?“

„Deine Augen sind so komisch.“

„Das bildest du dir bloß ein, Orbin.“

Orbin zuckte die Achseln. „Hm, vielleicht.“

Und er begann wieder zu pfeifen. Und mit einem Lächeln, das unangenehm wissend und hochmütig war, strolchte er davon.

Bin ich wirklich dermaßen leicht zu durchschauen? fragte sich Hresh. Mit einem einzigen Blick auf mich kann Orbin alles herauslesen, was in mir vorgeht?

Er lief eilig zu dem Lagerhaus der Sucher, wo er auf Konya und Praheurt und Taniane stieß, aber zu seiner großen Erleichterung war Haniman nicht dabei. Sie standen allesamt über ein unvertrautes Fundexemplar von Maschine gebeugt, von der in merkwürdigen Winkeln Arm- und Beingliedmaßen aus Metall hervorstrebten, und sie stocherten zaghaft daran herum.