Und dann redete Ryyig und sprach.
„Der. Winter.“
Die Stimme war schwächlich, aber die Worte unmißverständlich.
„Der. Winter.“
„. ist dahin“, soufflierte Koshmar. „Ja! Ja! Sag es doch! Sag: Was wartet ihr? Der Winter ist vorbei!“
Und ein drittesmaclass="underline" „Der. Winter.“
Die schmalen Lippen quälten sich krampfhaft. In den hageren Kinnbacken zuckten Muskeln. Ryyigs Körper sackte schwer gegen Koshmars Arm; seine Schultern wurden von einem wellenartigen Beben überzogen. die Augen trübten sich und verloren alle Schärfe.
„Ist er tot?“ fragte Harruel. „Ich glaub, er ist tot. Der Träumeträumer ist tot!“
„Er ist bloß wieder eingeschlafen“, sagte Torlyri.
Koshmar schüttelte den Kopf. Harruel hatte recht. Es war überhaupt kein Leben mehr in Ryyig. Sie kam mit ihrem Gesicht dem seinen ganz nahe. Sie berührte seine Wangen, den Arm, seine Hand. Tot. Ja, er war tot. Kalt, schlaff und tot. Ganz gewiß bedeutete dies das Ende einer Zeit und den Beginn einer neuen. Koshmar ließ die zarte schlaffe Gestalt in die Wiege zurückgleiten. Dann wendete sie sich triumphierend ihrem Volk zu. Ihre Brust vibrierte vor Begeisterung. Der Augenblick war gekommen. Ja — und er war gekommen, während Koshmar Stammesoberhaupt war, wie sie das so oft betend erfleht hatte.
„Ihr habt ihn gehört!“ verkündete sie. „Was wartet ihr? hat er verkündet. Der Winter ist vorbei! hat er gesagt. Wir werden unseren Kokon verlassen. Wir werden von dem Berg hier fortgehen: sollen ihn doch diese stinkenden Eisfresser haben, wenn sie ihn haben wollen. Kommt, macht euch auf, wir sollten damit beginnen, unseren Besitz zusammenzutragen! Wir müssen uns auf die Wanderung vorbereiten! Der Tag ist gekommen, an dem wir hinausziehen!“
Torlyri sprach in ihrer gewohnten sanften Art: „Koshmar, ich habe ihn nichts weiter sagen hören als ‚der Winter‘. nichts sonst.“
Koshmar starrte sie verblüfft an. Nun war sie endgültig sicher, daß sie sich in einer Zeit der großen Veränderung befanden, denn bereits zum zweitenmal an einem einzigen Tag hatte die sanftmütige Torlyri sich bewußt und deutlich dem Willen ihrer Tvinnr-Partnerin widersetzt. Da sie Torlyri innig liebte, unterdrückte sie ihren aufflammenden Zorn und sagte: „Dann hast du fehlgehört. Seine Stimme war sehr schwach, aber für mich gibt es keinen Zweifel an seinen Worten. Was sagst du dazu, Thaggoran? Ist nicht die Zeit zum Aufbruch gekommen? Und du, was sagst du? Und du?“
Streng blickte sie in der Kammer umher. Keiner wagte es, ihren Augen standzuhalten.
„Also seid ihr einverstanden“, sagte sie. „Der Winter ist vorbei. Es werden keine Sterne mehr niederstürzen. Also kommt! Die Zeit der Dunkelheit ist vorbei, und nun werden wir Menschen — dank der Huld Yissous und Dawinnos — unsere Welt wieder voll in Besitz nehmen.“
Sie peitschte ihr pralles kräftiges Sensororgan weit und autoritätspochend her und hin. Die heftige Bewegung forderte sie alle heraus, ihr zu widersprechen.
Keiner wagte es. Koshmar sah, daß der Junge, dieser Hresh, sie mit Augen voller höchster Erregung starr anfunkelte. Schön, also war es entschieden. Dies war der Tag. Über das praktische Verfahren würde sie sich noch mit Thaggoran besprechen müssen; denn das — soviel war ihr klar — würde kompliziert sein und ziemlich viel Zeit beanspruchen. Doch die Vorbereitungen auf die Auswanderung, der komplizierte Ablauf ritueller Handlungen und Zeremonien und das ganze restliche Brimborium sollten so bald wie möglich beginnen. Und danach — danach würde das Volk aus Koshmars Kokon sich aufmachen, um die Welt zu erobern.
Aus der Nische, in der die Schimmersteine aufbewahrt wurden, nahm Thaggoran die fünf ältesten, die als Vingir, Nilmir, Daralmir, Hrongnir und Thungvir bekannt waren, und legte sie als Pentagramm auf dem Altar aus. Das waren die heiligsten und die allerwirksamsten Steine im Besitz des Volkes. Er berührte einen nach dem anderen und baute so zwischen ihnen das magische Band auf, das die Weissagung ermöglichen würde. Die spiegelblanken schwarzen Flächen blitzten hell unter den Trauben der Glühbeeren, die die Wohnkammer erhellten, und es war ein hartes, scharfes Licht, obschon das von den Glühbeeren strömende eher mild und sanft war; es war, als werde durch die weiche Beleuchtung von außerhalb in den Schimmersteinen ein kaltes, aber heftiges Feuer entzündet.
Thaggoran hatte sich inzwischen damit abgefunden, daß er wahrscheinlich keinen neuen Schimmerstein zu dem gesammelten Schatz werde beitragen können, trotz seines dreimaligen Traums, daß es ihm beschieden sei, einen zu finden. Aber er hatte dort drunten in dem Höhlengängegewirr nur die Eisfresser ausfindig gemacht — keinen neuen Schimmerstein. Und nun blieb ihm keine Zeit mehr, seine Suche fortzusetzen.
Jedoch, die Träume waren nicht immer deutlich in dem, was sie vorhersagten. Immerhin, ihm war ein Vorzeichen einer großen Entdeckung zuteil geworden. und — hatte er nicht eine große Entdeckung gemacht?
Er berührte Vingir und Dralmir und Thungvir, und er spürte die Kraftströme der schimmernden schwarzen Steine. Er berührte Nilmir. Er berührte Hrongnir. Er hob an, die Anrufung zu singen: Sagt an, sagt an, sagt mir an...
„Sag mir.“, erklang ein Stimmchen in seinem Rücken.
Er hüpfte senkrecht in die Höhe, so betroffen war er, daß die Worte in seinem Geist plötzlich leibhaftig von außen in sein Gehör drangen. Unter der Tür zur Kammer stand Hresh und balancierte auf seine absonderliche Art auf nur einem Bein, stierte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, äffte ihn nach, war aber bereit, beim leisesten Stirnrunzeln die Flucht zu ergreifen. „Ich bitte dich, Thaggoran, sag es mir.“
„Knabe, es ist nicht die Zeit für kecke Fragen!“
„Was machst du da mit den Schimmersteinen, Thaggoran?“
„Hast du nicht verstanden, was ich dir sagte?“
„Och, ich versteh schon“, sagte Hresh. Seine Lippen bebten. Die riesigen unheimlichen Augen wurden feucht. Er begann zurückzuweichen. „Bist du zornig auf mich? Ich hab nicht gewußt, daß du Gewichtiges wirkst.“
„Wir machen uns bereit, aus dem Kokon fortzuziehen. Verstehst du das?“
„Ja. Ja.“
„Und ich muß den Ratschluß der Götter erforschen. Ich muß herausfinden, ob unser Vorhaben erfolgreich sein wird.“
„Und die Schimmersteine verraten dir das?“
„Wenn ich die Fragen richtig stelle, dann werden sie mir die richtige Antwort geben“, sagte Thaggoran.
„Darf ich zuschauen?“
Thaggoran lachte. „Du hast den Verstand verloren, Junge!“
„Wirklich? Meinst du, ich bin verrückt?“
„Komm her zu mir!“ sagte der Chronist. Er krümmte gebietend den Finger, und Hresh hüpfte in die Heilige Kammer. Thaggoran legte dem Kleinen den Arm um die Hüfte. „Als ich in deinen Jahren war“, sagte er, „sofern es dir möglich ist, dir auszumalen, daß ich einst jung war, so wie du es heute bist, war Thrask der Hüter der Chronik. Und wenn ich damals je gewagt hätte, hier hereinzuplatzen, während Thrask mit den Schimmersteinen beschäftigt war, dann hätte er dafür gesorgt, daß eine Stunde später mein Fell an Pflöcken zum Trocknen an der Wand ausgespannt gewesen wäre. Du hast verdammtes Glück, daß ich ein mildherzigerer Mann bin, als Thrask es war.“
„Und warst du so wie ich, als du so alt warst wie ich?“ fragte Hresh.
„Kein Kind war jemals so wie du“, antwortete Thaggoran.