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„Auch ich gehe mit dir“, sagte Lakkamai.

Torlyri stieß sogleich einen leisen, halberstickten Schrei aus. Sie biß sich auf die Lippe, trat beiseite und wandte das Gesicht ab, jedoch nicht so schnell, daß Hresh den Ausdruck der Bestürzung drauf nicht hätte sehen können. Auch Koshmar sah bedrückt und betroffen aus; und Hresh erkannte, wie sehr dieser Ausdruck von Furcht geprägt war, denn Koshmar mußte es ja mit Entsetzen erfüllen, daß Torlyri womöglich mit Lakkamai gehen und die Stadt verlassen würde. Aber Torlyri blieb.

Nun wandte sich Harruel an seine Partnerin.

„Minbain?“

„Ich komme“, sagte sie ruhig. „Wohin du gehst, dahin will auch ich gehen.“

„Und du — Hresh?“ fragte Harruel schließlich. „Deine Mutter schließt sich uns an, dein jüngerer Bruder, Samnibolon, zieht mit uns. Und du, willst du zurückbleiben?“ Und er kam auf Hresh zu und stellte sich drohend und groß vor ihm auf. „Wir werden deine Kenntnisse und Künste in unsrem neuen Leben gut verwenden können. Du würdest unser Chronist sein, genau wie du es hier warst, und was immer du dir wünschen magst, Knabe, es soll dein sein. Also, kommst du mit mir?“

Hresh vermochte nicht zu antworten. Sprachlos stierte er seine Mutter an und dann Koshmar und Torlyri — und Taniane.

„Also?“ fragte Harruel drohender. „Kommst du?“

Hresh spürte, wie die Welt rings um ihn zu wirbeln begann.

„Also?“ fragte Harruel noch einmal.

Und Hresh senkte die Augen und sagte: „Nein.“ So leise sagte er es, daß keiner verstand.

„Was? Was hast du gesagt? So sprich doch lauter!“

„Nein!“ wiederholte Hresh, diesmal deutlicher. „Ich gedenke hierzubleiben, Harruel.“ Und er spürte, wie ihm das Blut wild durch den Körper schoß, und dies verlieh ihm Kraft und Festigkeit. „Wir alle werden eines baldigen Tages Vengiboneeza verlassen müssen“, sagte Hresh. „Aber diese Zeit ist noch nicht gekommen. Und es soll nicht auf diese Weise geschehen. Ich bleibe hier. Ich habe hier noch einige Aufgaben zu erfüllen.“

„Elender kleiner Knecht!“ schrie Harruel. „Du verlauste mickrige hinterhältige Wanze!“

Sein langer Arm sauste durch die Luft. Hresh sprang zurück, jedoch nicht rasch genug. Harruels Fingerspitzen fuhren ihm über die Wange, und die Wucht selbst eines derart oberflächlichen Streichs war derart gewaltig, daß Hresh durch die Luft geschleudert wurde und als bebendes Häuflein auf dem Boden landete. Und da lag er nun eine Weile und zitterte. Dann kam Torlyri zu ihm und richtete ihn auf und drückte ihn zärtlich an die Brust.

„Wer noch?“ fragte Harruel. „Wer unter euch will mir noch folgen? Wer? Wo seid ihr? Wer? Wer noch?“

12. Kapitel

Wie seltsam, daß sie fort sind

Dieser Tag sollte später als ‚Tag der Spaltung‘ in die Geschichte eingehen. Elf erwachsene Stammesmitglieder waren davongezogen, und zwei Kinder; und noch lange danach sagte man im Volk: Wie seltsam, daß sie fort sind — und lauschte in die Stadt wie nach dem Verhallen eines gewaltigen Gongs.

Es dauerte sogar mehrere Wochen, ehe Hresh sich überwinden konnte, das Ereignis in die Chronik einzutragen. Er war sich bewußt, daß er seine Pflicht vernachlässigte, und dennoch verschob er es immer wieder, bis er eines Morgens feststellte, daß er nicht mehr sicher war, ob es nun zehn oder nur sieben Erwachsene gewesen waren, die auszogen. Da begriff er, daß er einen Bericht über die Geschehnisse anfertigen müsse, bevor ihm das Ganze noch undeutlicher zu werden drohte. Dies war er denen schuldig, die in künftigen Tagen die Chronik lesen würden. Und so schlug er das Buch auf und drückte die Finger gegen das kühle Pergament der nächsten leeren Seite und sagte, was er zu sagen hatte, und dies war: Daß der Krieger Harruel sich wider die Herrschaft der Stammesführerin Koshmar erhoben und eine Rebellion angezettelt habe und aus der Stadt gezogen sei, und mit ihm gezogen seien die Männer Konya, Salaman, Nittin, Bruikkos und Lakkamai und die Weiber Galihine, Nettin, Weiawala, Thaloin — und Minbain.

Am schwersten ward ihm, den Namen seiner Mutter einzutragen. Als er es versuchte, wollte der Name nicht richtig erscheinen, und seine Fingerballen druckten Mulbome und dann, nachdem er das getilgt hatte, Mirbale, ehe es ihm gelang, den Namen richtig auf dem Blatt erscheinen zu lassen. Lange saß er da und starrte die gezackten braunen Lettern an, als er den Eintrag beendet hatte, und legte immer wieder die Fingerspitzen auf das Blatt um wieder und wieder zu lesen, was er geschrieben hatte.

Ich werde meine Mutter niemals wiedersehen, sagte er sich. Aber den Sinngehalt dieser Worte vermochte er nicht völlig zu begreifen, so oft er sie auch vor sich hinsagte.

Manchmal fragte sich Hresh, ob er nicht mit ihr hätte ziehen sollen. Als er sie damals angesehen hatte, als Harruel ihn aufforderte mitzukommen, hatte er das stumme Drängen in ihrem Blick gelesen. Und es hatte ihm weh getan, daß er sich abwenden, ihr die Bitte verweigern mußte. Dieser Entschluß war qualvoll gewesen; aber auch wenn es die endgültige Trennung von der Mutter bedeutete, wie hätte er seinen Stamm im Stich lassen können und all das, was in Vengiboneeza noch unerledigt auf ihn wartete, und all das, was er von dem Volk der Behelmten lernen könnte, und Taniane, ja, auch Taniane! —, um mit diesem Scheusal Harruel und seiner Handvoll Anhänger in die Wildnis zu ziehen? Nein, das war nicht das Schicksal, das er für sich bestimmt glaubte.

Minbains Verlust war der einzige tiefe Schmerz, den er fühlte. Gewiß, er empfand Mitgefühl mit Torlyri, weil sie ihren Partner verloren hatte; doch Lakkamai hatte ihm recht wenig bedeutet, ebenso Salaman oder Bruickos oder sonst einer von denen, die mit Harruel gezogen waren. Sie waren weiter nichts als Leute, bekannte Gesichter, Teile des Stammes. Nie war er ihnen nahe gewesen, so wie er Torlyri oder Taniane oder Orbin oder sogar Haniman sich nahe fühlte. Von denen war keiner fortgezogen, oder ihr Weggang hätte ihm sehr weh getan. Doch Minbain war ein Teil seiner selbst gewesen und er von ihr, und dies alles war nun auseinandergerissen und gespalten. Von dem Tag an, an dem Harruel sich Minbain zur Gefährtin genommen hatte, hatte Hresh die dunklen Wolken sich zusammenbrauen sehen. Denn was Harruel berührte, das veränderte und verschlang er am Ende.

Wie seltsam, daß der Mann nicht mehr da war. Er hatte dermaßen viel Raum eingenommen im Volk — eine düstere, launenhafte und in wachsendem Maße auch furchterregende Persönlichkeit — und nun auf einmal war da eine leere Stelle. Es war fast, als wäre der große grüne Berg über der Stadt plötzlich verschwunden. Man mochte diesen Berg vielleicht nicht gerade lieben, und vielleicht kam er einem auch überwältigend und bedrohlich vor, doch man hatte sich daran gewöhnt, ihn da aufragen zu sehen, und sollte er verschwinden, so würde dies das Gefühl einer beunruhigenden Leere zurücklassen.

Und war es schon beklemmend, daß der Stamm in einer einzigen Stunde derart einschneidend geschrumpft war, so war es noch viel beunruhigender, daß da eine ganze Horde von Fremden sich ganz in der Nähe niederlassen wollte.

Wenige Stunden nach Harruels Abspaltung war der gesamte Beng-Stamm auf den großen roten Bestien, die sie „Zinnobären“ nannten, in die Stadt eingezogen. Und es gab ihrer mehr, als man im Volk vermutet hatte: gut über hundert, darunter etwa dreißig, die allem Anschein nach Krieger waren. Sie besaßen achtzig oder neunzig Zinnobären, manche waren Reittiere, andere trugen Lasten. Weitere Packtiere, kleiner und blaugrün mit komischen dickknöcheligen Beinen, folgten im Troß. Es dauerte den ganzen Tag, bis der Zug der Beng durch das Tor in die Stadt gezogen war.

Koshmar bot ihnen den Dawinno-Galihine-Distrikt zur Niederlassung an. Es war ein anziehender Teil der Stadt, gut erhalten, mit Brunnen und Plätzen und ziegelgedeckten Gebäuden — und in beträchtlicher Entfernung von der Siedlung des Volkes. Hresh war wenig begeistert, daß sie dieses Stadtviertel erhalten sollten, da es dort Sachen gab, die er nicht richtig erforscht hatte. Doch Koshmar wählte den Bezirk gerade darum aus, weil es ein isolierter Sektor in der Stadt war und mit dem Hauptareal nur durch eine schmale Zufahrt verbunden, die zu beiden Seiten dicht mit einsturzgefährdeten, wackeligen Bauten bestanden war. Sie war der Meinung, daß es im Falle eventueller zwischen den zwei Stämmen ausbrechender Feindseligkeiten dem Volk möglich sein werde, die Beng festzunageln, indem man diese brüchigen Bauten zum Einsturz brachte und durch die Trümmer die Zufahrtsstraße blockierte.