›Aber will ich das überhaupt?‹
Denn ich verspürte bereits die Stürme, die der Wind der Liebe heranträgt. Ich bemerkte, daß es in der Mauer des Staudamms ein Loch gab. Wir saßen lange dort und tranken, doch wir sprachen nicht über ernste Dinge. Wir unterhielten uns über die Besitzer des Hauses, in dem wir übernachteten, und den Heiligen, der diese Stadt gegründet hatte. Er erzählte mir ein paar Legenden über die Kirche auf der anderen Seite des Platzes, die ich wegen des dichten Nebels nicht erkennen konnte.
»Du bist zerstreut«, sagte er irgendwann.
Ja, meine Gedanken schweiften. Ich hätte gern dort mit jemandem gesessen, der mein Herz in Frieden ließ, mit jemandem, mit dem ich diesen Augenblick ohne die Angst erleben konnte, ihn am nächsten Tag zu verlieren. Dann würde die Zeit nicht so rasen, wir könnten einfach schweigen, da wir ja das restliche Leben noch vor uns hätten, um miteinander zu reden. Ich müßte mir nicht über ernste Dinge den Kopf zerbrechen, schwierige Entscheidungen treffen, harte Worte aussprechen.
Wir schweigen. Das ist ein Zeichen. Das erste Mal schweigen wir einfach, obwohl es mir erst jetzt bewußt wird, als er sich erhebt, um noch eine Flasche Wein zu holen.
Wir schweigen. Ich lausche dem Knirschen seiner Schritte, die zum Brunnen zurückkehren, wo wir seit über einer Stunde sitzen, trinken und in den Nebel blicken.
Das erste Mal schweigen wir wirklich. Es ist nicht dieses beklemmende Schweigen wie im Auto auf dem Weg von Madrid nach Bilbao. Es ist nicht das Schweigen meines beklommenen Herzens, in der Kapelle in der Nähe von San Martin de Unx.
Seine Schritte halten inne. Er blickt mich an – es muß schön sein, was er jetzt sieht: eine Frau, die an einem Brunnen sitzt, eine neblige Nacht im Laternenschein.
Die mittelalterlichen Häuser, die Kirche aus dem 11.
Jahrhundert und die Stille.
Die zweite Flasche Wein ist halb leer, als ich zu reden anfange:
»Heute morgen war ich schon fast davon überzeugt, Alkoholikerin zu sein. Ich trinke den ganzen Tag. In diesen drei Tagen habe ich mehr getrunken als im ganzen letzten Jahr.« Er streicht mir wortlos über den Kopf. Ich spüre die Berührung und schiebe seine Hand nicht weg.
»Erzähl mir etwas über dein Leben«, bitte ich ihn.
»Da gibt es keine großen Geheimnisse. Es gibt meinen Weg, und ich tue alles, um ihn in Würde zu gehen.«
»Und was für ein Weg ist das?«
»Der Weg eines, der die Liebe sucht.«
Seine Hände spielen mit der leeren Flasche.
»Und die Liebe ist ein komplizierter Weg, nicht wahr? Weil dieser Weg uns entweder in den Himmel oder aber in die Hölle führt«, sage ich, obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob er mich damit meint.
Er sagt nichts. Vielleicht ist er noch immer in den Ozean des Schweigens abgetaucht, doch der Wein hat mir die Zunge gelöst, ich muß einfach reden.
»Du hast gesagt, daß sich in dieser Stadt etwas für dich geändert hat.«
»Ich glaube, ja. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, darum wollte ich dich hierherbringen.«
»Ist das ein Test?«
»Nein. Es ist Hingabe. Damit sie mir hilft, die richtige Entscheidung zu treffen.«
»Wer?«
»Die Heilige Jungfrau.«
Die Heilige Jungfrau. Das hätte ich ahnen müssen. Ich war beeindruckt davon, daß so viele Jahre der Reisen, der Entdeckungen neuer Horizonte ihn nicht vom Katholizismus der Kinderjahre befreit hatten. Da hatten meine Freunde und ich uns weiterentwickelt. Wir lebten nicht mehr unter dem Druck der Schuld und der Sünden.
»Es ist beeindruckend, wie du nach allem, was du erlebt hast, deinen Glauben behalten konntest.«
»Ich habe ihn nicht behalten. Ich habe ihn verloren und wiedergefunden.« »Aber bei heiligen Jungfrauen? In unmöglichen eingebildeten Dingen? Hattest du kein Sexualleben?«
»Doch, ein ganz normales. Ich habe mich in viele Frauen verliebt.«
Ich verspüre einen Stich Eifersucht, bin überrascht über meine Reaktion. Doch der innere Kampf scheint sich gelegt zu haben, und ich will ihn nicht wieder entfachen.
»Warum ist sie ›Die Heilige Jungfrau‹? Warum zeigen sie uns die Muttergottes nicht als eine normale Frau, die genauso ist wie alle anderen Frauen?«
Er trinkt den kleinen Rest, der noch in der Flasche ist, aus.
Fragt mich, ob er noch eine holen soll, und ich sage nein.
»Ich möchte, daß du mir eine Antwort gibst. Immer, wenn wir irgendein Thema anschneiden, redest du von etwas anderem.«
»Sie war eine ganz normale Frau. Sie hatte andere Kinder. Die Bibel erzählt uns, daß er noch zwei Brüder hatte. Die Jungfräulichkeit bei der Zeugung von Jesus hatte einen anderen Grund: Maria leitet eine neue Ära der Gnade ein. Eine neue Zeit beginnt. Sie ist die kosmische Braut, die Erde, die sich dem Himmel öffnet und sich befruchten läßt. Weil sie mutig ist, nimmt sie in diesem Augenblick ihr eigenes Schicksal an, macht, daß Gott auf die Erde kommt. Und sie verwandelt sich in die Große Mutter.«
Mir fällt es schwer, seinen Worten zu folgen. Er bemerkt es.
»Sie ist das weibliche Antlitz Gottes. Sie besitzt seine Göttlichkeit.«
Er bringt diese Worte mühsam hervor, beinahe widerwillig, als würde er eine Sünde begehen.
»Eine Göttin?« frage ich.
Ich warte darauf, daß er es mir genauer erklärt, doch er redet nicht weiter. Minuten vorher hatte ich noch ironisch seinen Katholizismus belächelt. Jetzt klangen seine Worte für mich wie eine Blasphemie.
»Wer ist die Jungfrau? Wer ist die Göttin?« hake ich nach. »Es ist nicht einfach zu erklären«, sagt er und scheint sich immer unbehaglicher zu fühlen. »Ich habe etwas mit, das ich geschrieben habe. Wenn du magst, kannst du es lesen.«
»Mir geht es nicht darum, etwas zu lesen, ich möchte, daß du es mir erklärst.« Ich lasse nicht locker.
Er greift zur Weinflasche, doch sie ist leer. Wir wissen nicht mehr, was uns zu diesem Brunnen geführt hat. Etwas Bedeutsames ist gegenwärtig, als bewirkten seine Worte ein Wunder. »Sprich weiter«, beharre ich. »Ihr Symbol ist das Wasser, um sie ist Nebel. Die Göttin benutzt das Wasser, um sich zu offenbaren.« Der Nebel scheint lebendig zu werden und sich in etwas Heiliges zu verwandeln, ich bin aber noch genauso schlau wie vorher.
»Ich möchte dir jetzt keinen Geschichtsunterricht geben. Wenn du magst, kannst du das in dem Text nachlesen, den ich bei mir habe. Doch du mußt wissen, daß es diese Frau, die Göttin, die Jungfrau Maria, die jüdische Shechinah, die Große Mutter, Isis, Sophia, Dienerin und Herrin, in allen Religionen der Welt gibt.
Sie wurde vergessen, verboten, verborgen, doch sie wurde in den Jahrtausenden bis heute immer weiter verehrt.«
›Gott hat zwei Gesichter, und eines ist das Antlitz einer Frau.‹
Ich blicke ihm ins Gesicht. Seine Augen leuchten und schauen gebannt auf den Nebel vor uns. Ich merke, daß er auch ohne mein Zutun weiterreden würde.
»Sie ist im ersten Kapitel der Bibel gegenwärtig, als Gottes Geist über den Wassern schwebte, und Er die Feste über den Wassern von der Feste unter den Wassern schied, die Er den Himmel nannte. Das ist die mystische Vermählung von Himmel und Erde. Sie ist auch im letzten Kapitel der Bibel gegenwärtig, wo es heißt:
Der Geist und die Braut sagen: Komm. Der, der hören kann, sage: Komm. Der, den es dürstet, sage: Komm, und der, der es will, möge das Wasser des Lebens umsonst bekommen.
»Weil das Symbol der weiblichen Seite Gottes das Wasser ist?« »Ich weiß es nicht. Doch im allgemeinen wählt sie das Wasser aus, um sich zu offenbaren. Vielleicht, weil sie die Quelle des Lebens ist. Wir werden im Wasser ausgetragen, neun Monate lang bleiben wir dort.«
›Das Wasser ist das Symbol für die Macht der Frau, einer Macht, die kein Mann, so erleuchtet oder vollkommen er auch sein mag, je erlangen kann.‹
Einen Augenblick hält er inne, fährt dann aber weiter fort: »In jeder Religion, in jeder Tradition zeigt sie sich auf die verschiedenste Art und Weise, doch sie offenbart sich immer.