Da ich katholisch bin, sehe ich sie, wenn ich vor der Jungfrau Maria stehe.«
Er nimmt mich bei der Händen, und kaum fünf Minuten später liegt Saint-Savin hinter uns. Wir kommen an einer Säule am Straßenrand vorbei. Das Kruzifix darauf ist seltsam: Die Heilige Jungfrau nimmt dort den Platz von Jesus Christus ein. Mir fallen seine Worte wieder ein, und ich bin überrascht.
Jetzt sind wir ganz von Dunkelheit und Nebel umfangen. Ich stelle mir vor, wie ich im Wasser bin, im Mutterleib, wo weder die Zeit noch der Gedanke existieren. Alles, was er gesagt hat, scheint Sinn zu machen, einen ungeheuren Sinn. Ich erinnere mich an die Frau beim Vortrag. Ich erinnere mich an die junge Frau, die mich mit sich zu dem Platz genommen hat. Auch sie hatte gesagt, daß das Wasser das Symbol der Göttin sei.
»Zwanzig Kilometer von hier gibt es eine Grotte«, fährt er fort.
»Am 11. Februar 1858 sammelte dort ein Mädchen mit zwei anderen Kindern Holz. Es war ein zartes, asthmatisches Mädchen, dessen Armut schon Elend genannt werden konnte.
An jenem Wintertag fürchtete es sich davor, einen kleinen Bach zu überqueren. Es hätte naß, krank werden können, und seine Eltern waren auf den kargen Lohn angewiesen, den es als Hirtin verdiente.
Da erschien eine weißgekleidete Frau mit zwei goldenen Rosen zu ihren Füßen. Sie behandelte das Mädchen wie eine Prinzessin, bat es höflich darum, eine bestimmte Anzahl von Malen dorthin zurückzukommen, und verschwand wieder. Die beiden anderen Kinder, die gesehen hatten, wie das Mädchen in Trance gefallen war, erzählten die Geschichte überall herum.
Von diesem Augenblick an begann für das Mädchen ein dornenvoller Weg. Es wurde festgenommen, und man verlangte von ihm, daß es alles leugnete. Leute versuchten, es zu bestechen, damit es die Erscheinung um einen Gefallen für sie bat. Anfangs wurde ihre Familie öffentlich beschimpft. Die Leute sagten, das Mädchen habe mit dieser Geschichte nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen.
Das Mädchen, es hieß Bernadette, wußte überhaupt nicht, was es da sah. Es nannte die Frau ›Jenes Wesen‹, und seine besorgten Eltern suchten beim Dorfpfarrer Hilfe. Der Pfarrer schlug vor, daß es, wenn es die Erscheinung wieder sah, diese bitten sollte, ihm ihren Namen zu nennen.
Bernadette tat, was ihr der Pfarrer aufgetragen hatte, doch die Antwort war nur ein Lächeln. ›Jenes Wesen‹ erschien ihr insgesamt achtzehnmal, zumeist schweigend. Einmal bat sie das Mädchen, die Erde zu küssen. Obwohl sie nicht wußte, worum es ging, tat Bernadette, was sie ›Jenes Wesen‹
geheißen hatte. Einmal bat sie das Mädchen, ein Loch in den Boden der Grotte zu graben. Bernadette gehorchte, und sogleich entstand eine Pfütze voll schlammigen Wassers, denn in der Grotte wurden die Schweine gehalten.
›Trink dieses Wasser‹, sagte die Frau.
Das Wasser ist so schmutzig, daß Bernadette etwas davon schöpft und es dreimal wieder weggießt. Sie wagt nicht, es zum Munde zu führen. Doch schließlich, obwohl sie sich davor ekelt, gehorcht sie. An der Stelle, an der sie ein Loch gegraben hat, beginnt Wasser zu sprudeln. Ein auf einem Auge blinder Mann benetzt sein Gesicht mit ein paar Tropfen und wird wieder sehend. Eine Frau, die verzweifelt war, weil ihr neugeborener Sohn im Sterben lag, tauchte das Kind an einem Frosttag in die Quelle. Das Kind wurde geheilt.
Die Nachricht verbreitet sich allmählich, und Tausende kommen zu diesem Ort. Das Mädchen bittet die Frau jedesmal, ihm ihren Namen zu nennen, doch diese lächelt nur. Eines Tages aber wendet sich ›Jenes Wesen‹ an Bernadette und sagt:
›Ich bin die Heilige Jungfrau der Unbefleckten Empfängnis.‹
Glücklich läuft das Mädchen zum Dorfpfarrer und berichtet ihm davon.
›Das ist unmöglich‹, sagte er. ›Niemand kann gleichzeitig der Baum und die Frucht sein, mein Kind. Du solltest sie besser mit Weihwasser besprengen.‹
Für den Pfarrer gibt es prinzipiell nur Gott, und Gott ist – darauf weist alles hin – männlich.«
Er macht eine lange Pause.
»Bernadette besprengt ›Jenes Wesen‹ mit Weihwasser. Die Erscheinung lächelt nur zärtlich.
Am 16. Juli erscheint die Frauengestalt zum letzten Mal. Kurz darauf tritt Bernadette in ein Kloster ein, ohne zu wissen, daß sie dieses kleine Dorf bei der Grotte vollkommen verändert hat.
Die Quelle sprudelt weiter, und es geschehen dort immer noch Wunder.
Diese Geschichte macht zuerst in Frankreich die Runde, dann wird sie auf der ganzen Welt bekannt. Die Stadt wächst und verändert sich. Händler kommen und lassen sich dort nieder.
Hotels werden eröffnet. Bernadette stirbt, ohne zu erfahren, was dort vor sich geht, und wird fern von ihrem Heimatort begraben.
Leute, die der Kirche schaden wollen, obwohl der Vatikan die Erscheinungen inzwischen anerkannt hat, erfinden Wunderheilungen, die sich später als Fälschungen erweisen.
Die Kirche reagiert scharf: Von einem bestimmten Augenblick an erkennt sie nur die Phänomene als Wunder an, die einer Reihe strenger Untersuchungen seitens medizinischer und wissenschaftlicher Gremien standhalten.
Aber die Quelle sprudelt weiter, und immer wieder werden Menschen geheilt.«
Ein Geräusch ganz in unserer Nähe läßt mich aufhorchen. Ich fürchte mich, doch er reagiert nicht. Der Nebel ist jetzt lebendig und voller Geschichte. Ich denke über alles nach, was er gesagt hat, und über die Frage, deren Antwort ich nicht verstanden habe: Woher weiß er das alles?
Ich denke an das weibliche Antlitz Gottes. Der Mann neben mir steckt voll innerer Konflikte. Erst vor kurzem noch hat er mir geschrieben, daß er in ein katholisches Priesterseminar eintreten wolle. Dennoch glaubt er, daß Gottes Antlitz weiblich ist.
Er schweigt. Ich fühle mich immer noch, als befände ich mich im Leib der Mutter Erde, außerhalb von Zeit und Raum.
Bernadettes Geschichte entrollt sich gleichsam vor meinen Augen in dem uns umgebenden Nebel.
Doch dann spricht er wieder: »Zwei wichtige Dinge wußte Bernadette allerdings nicht«, sagt er. »Erstens, daß diese Berge, bevor die christliche Religion hierhergelangte, von Kelten bewohnt wurden. Und deren höchste Gottheit war die Muttergottheit. Generationen über Generationen wußten um das weibliche Antlitz Gottes und hatten teil an Ihrer Liebe und Ihrer Glorie.«
»Und zweitens?«
»Zweitens traten heimlich, kurz bevor Bernadette ihre Visionen hatte, die höchsten Würdenträger des Vatikans zusammen.
Wenige nur wußten, was während dieser Versammlungen geschah. Der Dorfpfarrer von Lourdes hatte gewiß nicht die geringste Ahnung davon. Die Würdenträger entschieden über das Dogma der Unbefleckten Empfängnis Maria. Verkündet wurde diese Entscheidung durch die päpstliche Bulle Ineffabilis Deus. Doch wurde die Öffentlichkeit nicht genau darüber aufgeklärt, was dies bedeutete.«
»Und was hat das alles mit dir zu tun?« frage ich.
»Ich bin Ihr Schüler. Ich habe es durch Sie erfahren«, sagt er, ohne daß ihm bewußt wird, daß er damit die Quelle seines Wissens preisgibt.
»Du siehst Sie?«
»Ja.« Wir kehren zum Platz zurück und gehen die wenigen Meter hinüber zur Kirche. Ich sehe den Brunnen, das Licht der Laterne und die Flasche Wein und die zwei Gläser auf dem Brunnenrand stehen. ›Es sieht aus, als hätten dort zwei Liebende gesessen‹, denke ich. ›Schweigend, während ihre Herzen zueinander sprachen. Und dann sagten die Herzen einander alles, begannen an den großen Mysterien teilzuhaben.‹
Über die Liebe haben wir nicht wieder gesprochen. Doch das ist unwichtig. Ich fühle, daß ich auf etwas sehr Bedeutsames gestoßen bin und die Gelegenheit nutzen muß, soviel wie möglich darüber zu erfahren. Mir geht kurz mein Studium in Saragossa durch den Kopf, der Mann meines Lebens, den ich zu finden beabsichtige – doch all dies ist jetzt in weite Ferne gerückt, vom selben Nebel eingehüllt, der sich über Saint-Savin gebreitet hat.