»Warum hast du mir die Geschichte der Bernadette erzählt?«
frage ich.
»Warum, weiß ich nicht genau«, antwortet er, ohne mir in die Augen zu sehen. »Vielleicht weil wir hier nicht weit von Lourdes sind. Vielleicht weil morgen der Tag der Unbefleckten Empfängnis Maria ist. Vielleicht weil ich dir zeigen wollte, daß meine Welt nicht so einsam und verrückt ist, wie es scheinen mag.«
›Andere Menschen denken wie er. Und glauben, was er sagt.‹
»Ich habe nie behauptet, daß deine Welt verrückt ist. Verrückt ist wahrscheinlich meine Welt: Ich vertue die wichtigste Zeit meines Lebens hinter Heften und Büchern, aber letztlich trete ich auf der Stelle.«
Ich spürte, daß er erleichtert war: Ich hatte ihn verstanden.
Ich wartete darauf, daß er weiter von der Göttin sprechen würde, doch er wandte sich zu mir: »Laß uns schlafen gehen«, sagte er, »wir haben viel getrunken.«
Dienstag, 7. Dezember 1993
Er schlief sofort ein. Ich lag noch eine Weile wach, dachte an den Nebel, den Platz dort draußen, an den Wein und an das Gespräch. Ich las das Manuskript, das er mir gegeben hatte, und fühlte mich glücklich; Gott war – so es ihn wirklich gab – Vater und Mutter.
Dann löschte ich das Licht und dachte daran, wie wir am Brunnen geschwiegen hatten. In jenen Augenblicken, in denen wir nichts sagten, hatte ich begriffen, wie nah ich ihm war.
Keiner von uns hatte ein Wort gesagt. Man braucht nicht über die Liebe zu reden, denn die Liebe hat ihre eigene Stimme, sie spricht für sich selbst. In jener Nacht beim Brunnen hatte die Stille erlaubt, daß unsere Herzen sich einander näherten und sich besser kennenlernten. Da hatte mein Herz gehört, was sein Herz sagte, und war glücklich gewesen.
Bevor ich die Augen schloß, machte ich jedoch noch die Übung, die er ›der oder die Andere sein‹ nannte.
›Ich befinde mich hier in diesem Zimmer‹, dachte ich, ›fern von allem, was ich gewohnt bin, rede über Dinge, für die ich mich nie interessiert habe, und schlafe in einer Stadt, in der ich noch nie gewesen bin. Ich kann – nur für ein paar Minuten – so tun, als wäre ich jemand anderes.‹
Ich begann mir vorzustellen, wie ich jenen Augenblick auch erleben könnte. Ich würde fröhlich, neugierig, glücklich sein.
Jeden Moment intensiv erleben, durstig das Wasser des Lebens trinken. Wieder Vertrauen in meine Träume haben.
Fähig sein, für das zu kämpfen, was ich wollte.
Einen Mann lieben, der mich liebte.
Ja, so war die Frau, die ich gern wäre – und die unvermittelt da war und sich in mich verwandelte.
Ich spürte, wie meine Seele vom Licht Gottes erfüllt wurde, an den ich nicht mehr glaubte – oder dem Licht einer Göttin? Ich spürte in jenem Augenblick, daß die Andere meinen Körper verließ und sich in eine Ecke des kleinen Zimmers kauerte. Ich sah die Frau an, die ich bislang gewesen war: schwach, aber vorspiegelnd, sie sei stark. Sie hatte vor allem und jedem Angst, verkaufte diese Angst aber als die Klugheit dessen, der die Wirklichkeit kennt. Vermauerte die Fenster, durch die die Sonne hereinscheinen und ihre alten Möbel ausbleichen könnte.
Ich sah die Andere in der Ecke des Zimmers hocken: zerbrechlich, müde, enttäuscht. Die das in Ketten legte und versklavte, was eigentlich immer frei sein sollte: die Gefühle.
Die eine zukünftige Liebe mit dem Maßstab vergangenen Leidens maß.
Die Liebe ist immer neu. Gleichgültig, ob wir einmal, zweimal oder zehnmal im Leben lieben – jedesmal sehen wir uns vor eine Situation gestellt, die wir nicht kennen. Die Liebe kann uns in die Hölle führen oder ins Paradies, doch sie führt uns immer irgendwohin. Man muß sie annehmen, weil sie die Nahrung unseres Lebens ist. Verweigern wir uns, so sterben wir Hungers, während wir auf die von Früchten schweren Äste des Lebensbaumes blicken, jedoch den Mut nicht aufbringen, diese Früchte zu pflücken. Man muß die Liebe suchen, wo auch immer sie sich befindet, selbst wenn dies bedeutet, daß wir Stunden, Tage, Wochen voller Enttäuschung und Traurigkeit durchleben müssen.
Denn in dem Augenblick, wo wir uns auf die Suche nach der Liebe machen, macht auch sie sich auf, uns zu finden.
Und rettet uns.
Als sich die Andere von mir entfernte, begann mein Herz wieder zu mir zu sprechen. Erzählte mir von dem Spalt in der Mauer des Stausees, durch den Wasser strömte, von überallher wehte der Wind, und mein Herz war freudig, weil ich ihm wieder zuhörte.
Mein Herz sagte mir, daß ich verliebt war. Und ich schlief mit einem Lächeln auf den Lippen glücklich ein.
Als ich erwachte, stand das Fenster offen, und er blickte hinaus auf die Berge. Eine Weile sagte ich nichts, würde die Augen wieder geschlossen haben, wenn er sich umgedreht hätte. Er wandte sich um, als hätte er meine Gedanken gelesen, und sah mir in die Augen. »Guten Tag«, sagte er.
»Guten Tag. Mach das Fenster zu, es wird kalt hier drinnen.«
Die Andere war ohne Vorankündigung wieder da. Sie wollte wieder die Windrichtung ändern, Mängel finden, ›Nein, es ist unmöglich‹ sagen. Dabei mußte sie wissen, daß es dafür zu spät war. »Ich muß mich anziehen«, sagte ich.
»Ich warte unten auf dich«, antwortete er.
Und dann stand ich auf, verscheuchte die Andere aus meinen Gedanken, öffnete das Fenster wieder und ließ die Sonne herein. Die Sonne überströmte alles, die schneebedeckten Berge, den mit Herbstlaub bedeckten Boden, den Fluß, den ich nicht sah, aber hörte.
Die Sonne fiel auf meine Brüste, meinen nackten Körper, und ich spürte die Kälte nicht, denn ich war von Wärme erfüllt, der Wärme eines Funkens, der zu einer Flamme wird, einer Flamme, die zu einem Feuer wird, einem Feuer, das nicht mehr zu bezähmen war. Ich wußte es.
Ich wollte es.
Ich wußte, daß ich von diesem Augenblick an Himmel und Hölle kennenlernen würde, Freude und Schmerz, Traum und Hoffnungslosigkeit, und daß ich die Stürme nicht mehr bändigen konnte, die in den verborgenen Winkeln der Seele tobten. Ich wußte, daß mich von diesem Augenblick an die Liebe leitete – obwohl sie schon seit meiner Kindheit dagewesen war, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte.
Denn vergessen hatte ich ihn nie, auch wenn ich mich für unwürdig gehalten hatte, um ihn zu kämpfen. Es war eine schwierige Liebe mit Grenzen, die ich nicht überschreiten wollte.
Ich erinnerte mich an den Platz in Soria, an den Augenblick, in dem ich ihn bat, die Medaille zu suchen, die ich verloren hatte.
Ich wußte – ja, ich wußte wohl, was er mir sagen wollte, und wollte es nicht hören, weil er einer von diesen Jungen war, die eines Tages auf der Suche nach Geld, Abenteuern oder Träumen fortgehen. Was ich wollte, war eine erfüllbare Liebe, mein Herz und mein Körper waren noch jungfräulich, und irgendwann würde mich ein verzauberter Prinz finden.
Damals verstand ich kaum etwas von der Liebe. Als ich ihn beim Vortrag sah und die Einladung annahm, hielt ich mich für eine reife Frau, die fähig war, das Herz des Mädchens im Griff zu haben, das so sehr darum gekämpft hatte, ihren verzauberten Prinzen zu finden. Dann hatte er vom Kind in uns gesprochen, und ich hatte wieder die Stimme des Mädchens vernommen, das ich einmal war, der Prinzessin, die Angst hatte vor Liebe und Verlust.
Vier Tage lang hatte ich nicht auf die Stimme meines Herzens gehört, doch sie war immer lauter geworden, was die Andere in Verzweiflung gestürzt hatte. Im verborgensten Winkel meiner Seele gab es mich immer noch, und ich glaubte an die Träume.
Bevor die Andere noch etwas sagen konnte, sagte ich ja zur Reise, sagte ich ja zum Risiko. Und das war der Grund – dieser kleine Rest von mir –, daß die Liebe mich wiederfand, nachdem sie mich überall auf der Welt gesucht hatte. Trotz der von der Anderen in einer ruhigen Straße in Saragossa aufgebauten Mauer aus Vorurteilen, Gewißheiten und Lehrbüchern hatte die Liebe mich wiedergefunden.