Habe das Leben von Alchimisten und Priestern geteilt. Und entdeckte, was ich entdecken mußte: daß die Wahrheit immer dort ist, wo auch der Glaube ist.«
Die Wahrheit ist dort, wo der Glaube ist. Ich sah mich noch einmal in der Kirche um: die abgewetzten Steine, die so viele Male eingerissen und wieder an ihren Platz gesetzt worden waren. Was ließ den Menschen so beharrlich daran arbeiten, diese kleine Kirche an einem so abgelegenen Ort hoch oben in den Bergen immer wieder aufzubauen?
Der Glaube.
»Die Buddhisten hatten recht, die Hindus hatten recht, die Indianer hatten recht, die Moslems hatten recht, die Juden hatten recht. Geht der Mensch ehrlich den Weg des Glaubens, dann wird es ihm gelingen, sich mit Gott zu vereinigen und Wunder zu tun. Doch dieses Wissen allein reicht nicht: Man muß eine Wahl treffen. Ich habe die katholische Kirche gewählt, weil ich mit ihren Mysterien groß geworden bin. Wäre ich als Jude geboren, hätte ich die jüdische Religion gewählt. Gott ist derselbe, auch wenn er tausend Namen hat. Doch man muß einen Namen wählen, um zu ihm beten zu können.«
Wieder Schritte in der Kirche.
Ein Mann näherte sich und sah uns an. Dann ging er zum Hauptaltar und nahm zwei Leuchter herunter. Es war wohl jemand, der in der Kirche nach dem Rechten sah, vielleicht der Küster.
Ich dachte an den Wärter in der anderen Kapelle, der uns nicht hineinlassen wollte. Doch der Mann hier sagte nichts.
»Heute abend muß ich mich mit jemandem treffen«, sagte er, sobald der Mann hinausgegangen war.
»Bitte erzähl weiter, und wechsle nicht immer das Thema.«
»Ich bin in ein Priesterseminar hier in der Nähe eingetreten.
Vier Jahre habe ich alles Wissen, was sich mir bot, in mir aufgesogen. Damals begegnete ich das erste Mal den Erleuchteten, den Charismatikern, vielen anderen Strömungen, die versuchten, lange verschlossene Türen wieder zu öffnen.
Ich entdeckte, daß Gott nicht dieser Rächer war, vor dem ich als Kind immer Angst hatte. Daß es Ansätze für eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Unschuld des Christentums gab.« »Du meinst also, man hätte nach zweitausend Jahren endlich begriffen, daß Jesus in die Kirche aufgenommen werden sollte«, bemerkte ich ironisch.
»Du sagst das spöttisch, doch genau darum geht es. Ich begann es bei einem der Klostervorsteher zu lernen. Er hat mich gelehrt, darin einzuwilligen, das Feuer der Erleuchtung, den Heiligen Geist, zu empfangen.«
Bei seinen Worten zog sich mein Herz zusammen. Die Heilige Jungfrau lächelte weiterhin, und das Jesuskind hatte einen fröhlichen Gesichtsausdruck. Auch ich hatte an all das einmal geglaubt. Doch mit der Zeit, dem Älterwerden und weil ich mich als logisch denkende, wirklichkeitsbezogene Person sah, distanzierte ich mich immer mehr von der Religion. Ich sehnte mich zwar nach diesem kindlichen Glauben, der mich so viele Jahre lang begleitet und mich an Engel und Wunder hatte glauben lassen. Doch der Wille allein genügte nicht, ihn wiederzuerlangen.
»Der Vorsteher sagte zu mir, wenn ich glaubte, was ich wüßte, dann würde ich am Ende wissend sein«, fuhr er fort. »Ich begann Selbstgespräche zu führen, wenn ich allein in meiner Zelle war. Ich betete darum, der Heilige Geist möge sich mir zeigen und mich alles lehren, was ich brauchte. Ganz allmählich entdeckte ich, daß während meiner Selbstgespräche eine weisere Stimme zu mir sprach.«
»Das ist auch bei mir so«, unterbrach ich ihn.
Er wartete darauf, daß ich fortfuhr. Doch ich konnte nichts mehr herausbringen.
»Ich höre«, sagte er.
Etwas hatte meine Zunge gelähmt. Er fand schöne Worte für das, was er sagen wollte, ich konnte mich nicht so gut ausdrücken.
»Die Andere will wieder zurück«, sagte er, als erriete er meine Gedanken. »Die Andere hat Angst, Unsinn zu reden.«
»Ja«, antwortete ich und bemühte mich, meine Angst zu bezwingen. »Manchmal, wenn ich mit jemandem rede und mich die Begeisterung mitreißt, sage ich plötzlich Dinge, die ich nie zuvor gedacht habe. Es ist so, als spräche aus mir eine höhere Intelligenz, die nicht meine ist und die das Leben viel besser begreift als ich. Doch das kommt selten vor. Meist halte ich mich bei Diskussionen im Hintergrund, meine, ich lerne was dazu, doch am Ende vergesse ich alles wieder.«
»Wir sind für uns selbst die größte Überraschung«, sagte er.
»Wäre unser Glaube nur so groß wie ein Senfkorn, so könnten wir diese Berge dort versetzen. Das habe ich gelernt. Und heute wundere ich mich über meine eigenen Worte. Die Apostel waren Sünder, Analphabeten, Unwissende. Doch sie nahmen die Flamme in sich auf, die vom Himmel kam. Sie schämten sich ihrer eigenen Unwissenheit nicht: sie glaubten an den Heiligen Geist, der sich dem schenkt, der ihn annehmen will.
Man muß nur glauben, annehmen und keine Angst haben, einen Fehler zu machen.«
Die Heilige Jungfrau vor mir lächelte. Sie hatte nur allzu viele Gründe gehabt, um zu weinen. Und dennoch lächelte sie.
»Erzähl weiter«, sagte ich.
»Allein darauf kommt es an«, antwortete er. »Die Gabe annehmen. Dann offenbart sie sich.«
»So einfach geht das aber nicht.«
»Verstehst du nicht, was ich meine?«
»Doch. Aber ich bin wie alle anderen: Ich habe Angst, und dann denke ich, bei dir mag das funktionieren, auch bei jemand anderem, doch bei mir nicht.«
»Das wird sich eines Tages ändern. Wenn du begreifst, daß wir alle wie dieses Kind hier vor uns sind, das uns ansieht.«
»Doch bis dahin werden wir alle meinen, daß wir dem Licht zwar nahe sind, unsere eigene Flamme aber nicht entzünden können.«
Darauf entgegnete er nichts.
»Du hast mir die Geschichte vom Priesterseminar nicht zu Ende erzählt«, sagte ich nach einer Weile.
»Ich bin immer noch im Priesterseminar.« Und noch bevor ich darauf reagieren konnte, erhob er sich und trat in den Gang zwischen den Bänken.
Ich rührte mich nicht. In meinem Kopf drehte sich alles, ich verstand nichts mehr.
Im Priesterseminar!
Es war besser, nicht weiter darüber nachzudenken. Der Staudamm war gebrochen, die Liebe überschwemmte meine Seele, und ich konnte sie nicht mehr eindämmen. Einen Ausweg gab es noch: die Andere, die hart war, weil sie schwach war, die kalt war, weil sie Angst hatte. Doch ich wollte sie nicht mehr. Ich konnte das Leben nicht mehr mit ihren Augen sehen.
Ein Ton unterbrach meine Gedanken. Ein hoher, langanhaltender Ton wie aus einer riesigen Flöte. Mein Herz tat einen Sprung.
Dann noch ein Ton und noch einer. Ich wandte mich um. Eine Holztreppe führte nach oben zu einer grobgezimmerten Empore, die gar nicht zu der eisigen Schönheit des Steins passen wollte, und zu einer alten Orgel.
Und da war er. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, denn es war dunkel dort oben. Doch ich wußte, daß er es war.
Ich wollte aufstehen, doch er gebot mir sitzenzubleiben.
»Pilar«, sagte er sehr bewegt. »Bleib, wo du bist.«
Ich gehorchte.
»Möge mich die Große Mutter erleuchten«, fuhr er fort. »Möge diese Musik mein heutiges Gebet sein.«
Und er begann das Ave Maria zu spielen. Es mochte etwa sechs Uhr nachmittags sein, die Stunde des Angelus, die Stunde, in der Licht und Dunkelheit ineinander übergehen. Der Klang der Orgel hallte in der leeren Kirche, drang in die von Geschichte und Glauben durchtränkten Steine und Figuren. Ich schloß die Augen und ließ die Musik auch in mich eindringen, damit sie meine Seele von Ängsten und von Schuld reinwusch, mich nicht vergessen ließ, daß ich besser war, als ich dachte, stärker, als ich glaubte. Plötzlich mußte ich einfach beten. Seit mir der Glaube abhanden gekommen war, überkam es mich zum ersten Mal.
Ich saß zwar dort auf der Bank, doch in Wahrheit kniete meine Seele vor dieser Frau vor mir, der Frau, die ja gesagt hatte, als sie hätte nein sagen und es dem Engel überlassen können, statt ihrer eine andere zu finden, und es wäre keine Sünde vor dem Herrn gewesen, denn Gott kennt die Schwächen seiner Kinder. Doch sie hat