Dein Wille geschehe
gesagt, obwohl sie spürte, daß sie mit den Worten des Engels allen Schmerz und alles Leiden ihres Schicksals empfing. Und mit den Augen ihres Herzens konnte sie sehen, wie ihr geliebter Sohn dereinst das Haus verließ, die Menschen, die ihm folgten und ihn später verleugneten, doch sie hatte Dein Wille geschehe
gesagt, obwohl sie ihr Kind bei den Tieren im Stall zur Welt bringen mußte, weil die Heilige Schrift es so wollte, Dein Wille geschehe
obwohl sie ihren Sohn voller Angst in den Straßen suchen und ihn dann im Tempel finden würde. Und er sie bitten würde, ihn nicht zu stören, da er andere Pflichten und Aufgaben zu erfüllen habe.
Dein Wille geschehe
obwohl sie wußte, daß sie ihn ein ganzes Leben lang suchen würde, das Herz vom Dolch des Schmerzes durchbohrt, jeden Augenblick um sein Leben fürchtend, wissend, daß er verfolgt und bedroht sein würde.
Dein Wille geschehe,
obwohl sie wegen der Menge nicht zu ihm gelangen konnte.
Dein Witte geschehe,
obwohl ihr Sohn, wenn sie jemanden bitten würde, ihm zu sagen, daß sie da sei, ihr ausrichten ließe, ›meine Mutter und meine Brüder sind die, die bei mir sind‹.
Dein Wille geschehe, obwohl, wenn am Ende alle geflohen wären, nur sie, eine andere Frau und einer von ihnen am Fuße des Kreuzes ausharren würden und das Gelächter der Feinde und die Feigheit der Freunde ertragen.
Dein Wille geschehe.
Dein Wille geschehe, Herr. Denn Du kennst die Schwäche der Herzen Deiner Kinder und erlegst einem jeden nur die Bürde auf, die es tragen kann. Denn Du verstehst meine Liebe, die das einzige ist, was ganz mein ist, das einzige, was ich in das andere Leben mitnehmen kann. Mach, daß sie trotz der Abgründe und der Fallstricke, die die Welt bereithält, mutig und rein ist, auf daß sie weiterlebe.
Die Orgel schwieg, die Sonne verbarg sich hinter den Bergen, als würden beide von derselben Hand befehligt. Sein Gebet wurde erhört, die Musik war sein Gebet gewesen. Ich öffnete die Augen, und die Kirche lag nun in vollkommener Dunkelheit, bis auf eine einsame Kerze, die das Bildnis der Heiligen Jungfrau beleuchtete.
Ich hörte wieder seine Schritte, die zu mir zurückkehrten. Der Schein dieser einzigen Kerze beleuchtete meine Tränen und mein Lächeln, das, wenn es auch nicht so schön war wie das der Heiligen Jungfrau, zeigte, daß mein Herz lebendig war.
Wir sahen einander an. Meine Hand suchte seine und fand sie.
Ich spürte, daß sein Herz jetzt schneller schlug, ich konnte es beinahe hören, weil wir beide wieder schwiegen.
Meine Seele aber war ruhig und mein Herz voller Frieden.
Ich hielt ihn bei der Hand, und er schloß mich in seine Arme.
Eng umschlungen standen wir zu Füßen der Heiligen Jungfrau, wie lange, weiß ich nicht, die Zeit war stehengeblieben. Sie blickte auf uns nieder. Die junge Bäuerin, die ja zu ihrem Schicksal gesagt hatte. Die Frau, die zugestimmt hatte, den Sohn Gottes in ihrem Leib und die Liebe der Göttin in ihrem Herzen zu tragen. Sie konnte verstehen.
Ich wollte nichts fragen. Allein die Augenblicke in der Kirche an jenem Nachmittag rechtfertigten diese Reise. Die vier Tage mit ihm reichten, um dem ganzen Jahr einen Sinn zu geben, in dem sonst nichts Besonderes geschehen war.
Daher wollte ich nichts fragen. Wir traten Hand in Hand aus der Kirche und gingen in unser Zimmer zurück. In meinem Kopf drehte sich alles – das Priesterseminar, die Große Mutter, das Treffen, zu dem er heute nacht gehen würde.
Da wurde mir klar, daß ich ebenso wie er meine Seele an dasselbe Schicksal binden wollte. Doch es gab das Priesterseminar in Frankreich, es gab Saragossa. Mein Herz krampfte sich zusammen. Ich blickte auf die mittelalterlichen Häuser, den Brunnen von der vorherigen Nacht. Ich erinnerte mich an die Stille und den traurigen Ausdruck der anderen Frau, die ich einmal gewesen war.
›Gott, ich versuche meinen Glauben wiederzufinden. Laß mich nicht allein‹, betete ich, um die Angst zu verscheuchen.
Er schlief ein wenig, und ich lag wieder wach, blickte auf das sich gegen die Dunkelheit abzeichnende Fenster. Irgendwann standen wir auf, aßen mit der Familie, die bei Tisch nie redete, zu Abend, und er bat um den Haustürschlüssel.
»Heute wird’s spät«, sagte er zur Frau.
»Junge Leute müssen sich amüsieren«, antwortete sie.
»Genießt ja die Feiertage.«
»Ich muß dich etwas fragen«, sagte ich, kaum daß wir im Wagen saßen. »Ich versuche es nicht zu tun, doch es gelingt mir nicht.«
»Das Seminar«, sagte er.
»Ja, genau. Ich verstehe das nicht.«
›Obwohl es nicht mehr wichtig ist, überhaupt noch etwas zu verstehen‹, dachte ich.
»Ich habe dich immer geliebt«, begann er. »Ich habe andere Frauen gehabt, doch ich liebte nur dich. Ich trug die Medaille bei mir, dachte, ich würde sie dir eines Tages wiedergeben, wenn ich den Mut hätte, dir zu sagen: ›Ich liebe dich.‹ Alle Wege führten mich immer wieder zu dir. Ich schrieb dir und öffnete beklommen deine Briefe, weil in einem von ihnen stehen konnte, daß du einen Mann gefunden hast. Damals vernahm ich dann den Ruf zum spirituellen Leben. Oder besser gesagt, ich folgte diesem Ruf, der mich genau wie du seit meiner Kindheit begleitete. Ich fand heraus, daß Gott in meinem Leben zu wichtig war, daß ich nicht glücklich sein würde, wenn ich meiner Berufung nicht folgen würde. Christus blickte mich in jedem Armen an, dem ich auf meinen Reisen durch die Welt begegnet bin, und ich konnte darüber nicht hinwe gsehen.«
Er schwieg, und ich beschloß, nicht in ihn zu dringen.
Zwanzig Minuten später hielt er den Wagen an, und wir stiegen aus.
»Wir sind in Lourdes«, sagte er. »Du müßtest das hier einmal im Sommer sehen.«
Ich sah nur menschenleere Straßen, geschlossene Läden, Hotels mit Scherengittern vor dem Haupteingang.
»Sechs Millionen Menschen kommen im Sommer hierher«, fuhr er bewegt fort.
»Auf mich wirkt das hier wie eine Geisterstadt.«
Wir gingen über eine Brücke. Vor uns lag ein riesiges, von Engeln flankiertes Eisentor, dessen einer Flügel geöffnet war.
Und wir gingen hindurch.
»Rede weiter«, bat ich ihn, obwohl ich kurz zuvor noch beschlossen hatte, nicht nachzuhaken. »Erzähl mir von Christi Antlitz in den Menschen.«
Ich merkte, daß er das Gespräch nicht fortsetzen wollte.
Vielleicht war jetzt weder der richtige Moment noch der richtige Ort dafür. Doch da er einmal begonnen hatte, mußte er es zu Ende führen.
Wir gingen eine endlose, von schneebedeckten Feldern gesäumte Allee entlang. An deren Ende erkannte ich die Umrisse einer Kathedrale.
»Rede weiter«, wiederholte ich.
»Du weißt doch schon alles. Ich bin ins Priesterseminar eingetreten. Während des ersten Jahres bat ich Gott, meine Liebe zu dir in Liebe für alle Menschen zu verwandeln. Im zweiten Jahr fühlte ich, daß Gott mich erhörte. Im dritten Jahr war ich mir sicher, daß diese Liebe, obwohl die Sehnsucht nach dir noch immer sehr groß war, sich allmählich in Barmherzigkeit, Gebet und Hilfe für die Bedürftigen verwandelte.«
»Und warum hast du mich dann wieder aufgesucht? Warum hast du in mir dieses Feuer wieder entfacht? Warum hast du mir von der Übung erzählt, eine Andere zu sein, mir gezeigt, wie kläglich mein Leben war?«
Die Worte brachen ungeordnet, zitternd aus mir hervor. Mit jeder Minute sah ich ihn dem Seminar näher und ferner von mir.
»Warum bist du zurückgekehrt? Warum erzählst du mir erst heute diese Geschichte, wo du doch merkst, daß ich anfange, dich zu lieben?«
Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Du wirst es dumm finden«, sagte er.