»Ich werde es nicht dumm finden. Ich habe keine Angst mehr, lächerlich zu erscheinen. Das hast du mich gelehrt.«
»Vor zwei Monaten hat mich der Vorsteher meines Klosters gebeten, ihn zu einem Haus zu begleiten, das einer Frau gehört hatte, die gestorben war und ihr ganzes Vermögen unserem Seminar vermacht hatte. Sie wohnte in Saint-Savin, und mein Vorsteher mußte ihre Besitztümer inventarisieren.«
Die Kathedrale im Hintergrund kam immer näher. Mir war klar, daß unser Gespräch unterbrochen werden würde, wenn wir dort anlangten.
»Hör jetzt nicht auf zu reden«, sagte ich. »Ich verdiene eine Erklärung.«
»Ich erinnere mich an den Augenblick, in dem ich das Haus betrat. Von den Fenstern sah man auf die Pyrenäen, deren schneebedeckte Gipfel das Sonnenlicht doppelt hell erstrahlen ließen. Ich begann eine Liste der Gegenstände aufzustellen, hörte aber nach kurzer Zeit damit auf, denn mir war aufgefallen, daß der Geschmack dieser Frau ganz und gar mit meinem übereinstimmte. Sie besaß genau dieselben Platten, die ich auch gekauft hätte, mit Musikstücken, die ich gern gehört hätte, während ich auf die Landschaft dort draußen schaute. Die Regale standen voller Bücher – einige hatte ich gelesen, andere hätte ich gewiß gern gelesen. Ich sah die Möbel, die Bilder, die kleinen, überall verteilten Gegenstände an; es war, als hätte ich sie ausgesucht.
Von diesem Tag an ging mir das Haus nicht mehr aus dem Sinn. Immer wenn ich zum Beten in die Kapelle ging, wurde mir bewußt, daß mein Verzicht noch nicht vollständig war. Ich stellte mir vor, daß ich mit dir dort wäre, in genau so einem Haus mit dir wohnte, diese Platten hörte, auf die schneebedeckten Berge und ins Kaminfeuer schaute. Ich stellte mir vor, daß unsere Kinder durchs Haus liefen und auf den Feldern um Saint-Savin spielten.« Obwohl ich dieses Haus nie betreten hatte, wußte ich genau, wie es aussah. Und ich wünschte, er würde nichts mehr sagen, um weiterträumen zu können.
Doch er fuhr fort: »Vor zwei Wochen konnte ich die Traurigkeit meiner Seele nicht mehr ertragen. Ich suchte meinen Superior auf und erzählte ihm alles. Ich erzählte ihm die Geschichte meiner Liebe zu dir und was ich gefühlt hatte, als ich die Liste des Inventars schrieb.«
Ein feiner Regen begann zu fallen. Ich zog den Kopf ein und knöpfte meine Jacke zu. Ich hatte Angst, zu hören, was nun kam.
»Da sagte mein Superior zu mir: ›Es gibt viele Arten, dem Herrn zu dienen. Wenn du glaubst, daß dies dein Schicksal ist, so folge ihm. Nur wer glücklich ist, kann Glück verbreiten.‹
›Ich weiß nicht, ob dies mein Schicksal ist‹, antwortete ich meinem Vorsteher. ›Mein Herz hat seinen Frieden gefunden, als ich beschloß, in dieses Kloster einzutreten.‹
›Dann geh nach Saint-Savin, um jeden Zweifel zu zerstreuen‹, sagte er. ›Bleib in der Welt, oder kehre ins Kloster zurück. Doch du mußt mit Herz und Seele an dem Platz sein, den du dir erwählt hast. Ein geteiltes Reich kann den Angriffen des Feindes nicht widerstehen. Ein geteilter Mensch kann dem Leben nicht in Würde begegnen.‹
Er griff in die Tasche und reichte mir etwas. Es war ein Schlüssel.
Der Vorsteher hat mir den Schlüssel zu jenem Haus geliehen.
Er sagte, der Verkauf des Hauses könne noch warten. Ich weiß, er wollte, daß ich mit dir dorthin zurückkehre. Er war es, der diesen Vortrag in Madrid arrangierte – damit wir uns wiedertreffen.«
Ich betrachtete den Schlüssel in seiner Hand und lächelte nur.
In meinem Herzen jedoch war es, als würden Glocken läuten und sich der Himmel öffnen. Er würde Gott auf eine andere Weise dienen – an meiner Seite. Und darum würde ich kämpfen.
»Nimm den Schlüssel«, sagte er.
Ich streckte meine Hand aus und verwahrte ihn in meiner Tasche.
Jetzt lag die Basilika vor uns. Noch bevor ich etwas sagen konnte, trat jemand auf ihn zu und begrüßte ihn. Der feine Regen fiel unablässig, und ich fragte mich, wie lange wir dort wohl bleiben würden; mein einziger Gedanke war, daß ich keine Wäsche zum Wechseln hatte und deshalb nicht naß werden durfte.
Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren. Ich wollte nicht an das Haus denken – an die Dinge, die zwischen Himmel und Erde schwebten und auf die Hand des Schicksals warteten.
Er rief mich heran und stellte mich ein paar Leuten vor. Sie fragten, wo wir untergebracht seien, und als er Saint-Savin sagte, meinte einer, daß dort ein heiliger Eremit begraben sei.
Er erzählte, jener habe einst den Brunnen in der Mitte des Platzes gefunden – und Saint-Savin sei ursprünglich als Zufluchtsort für die Mönche entstanden, die das Leben in den Städten aufgegeben hatten und auf der Suche nach Gott in die Berge gekommen waren.
»Sie sind immer noch da«, sagte ein anderer. Ich wußte nicht, ob diese Geschichte stimmte, und wußte auch nicht, wer ›sie‹ waren.
Immer mehr Leute kamen hinzu, und die Gruppe machte sich zum Eingang der Grotte auf. Ein älterer Mann versuchte, mir etwas auf französisch zu sagen. Als er merkte, daß ich ihn nicht verstand, wechselte er in ein holpriges Spanisch.
»Sie befinden sich in Begleitung eines ganz besonderen Menschen«, sagte er. »Dieser Mann tut Wunder.«
Ich antwortete nicht darauf, doch mir fiel die Nacht in Bilbao ein, als der verzweifelte Mann ihn angesprochen hatte. Damals hatte er mir nicht gesagt, wohin er ging, und es hatte mich auch nicht weiter interessiert. Meine Gedanken kreisten jetzt um ein Haus, von dem ich genau wußte, wie es aussah. Ich wußte, welche Bücher es darin gab, welche Platten, wie die Landschaft und die Einrichtung waren.
Irgendwo auf der Welt wartete ein ganz reales Haus auf uns, irgendwann. Ein Haus, in dem ich ruhig auf ihn warten würde.
Ein Haus, in dem ich auf ein Mädchen oder einen Jungen warten würde, die von der Schule zurückkamen und es mit ihrer Fröhlichkeit und ihrer Unordnung erfüllten.
Die Gruppe ging schweigend im Regen, bis wir am Ort der Erscheinungen angelangt waren. Er sah genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: eine Grotte mit dem Bildnis der Heiligen Jungfrau und hinter einer Glasscheibe die Quelle, wo das Wunder des Wassers sich vollzogen hatte. Einige Pilger beteten, andere saßen schweigend und mit geschlossenen Augen in der Grotte. Vor der Grotte floß ein Bach entlang, und das Rauschen seines Wassers beruhigte mich. Als ich das Bildnis sah, sprach ich ein schnelles Gebet; ich bat die Heilige Jungfrau, mir zu helfen, weil mein Herz nicht noch mehr leiden wollte.
›Wenn der Schmerz doch kommen sollte, dann möge er schnell kommen‹, sagte ich. ›Denn vor mir liegt ein ganzes Leben, und ich muß es so gut wie möglich nutzen. Wenn er eine Wahl treffen muß, dann soll er es gleich tun. Dann warte ich auf ihn.
Oder ich vergesse ihn. Warten tut weh. Vergessen tut weh. Doch nicht wissen, wofür man sich entscheidet, das ist das schlimmste Leiden.‹
Tief im Inneren meines Herzens fühlte ich, daß sie meine Bitte erhört hatte.
Mittwoch, 8. Dezember 1993
Als die Uhr der Basilika Mitternacht schlug, war die Gruppe um uns herum schon stark angewachsen. Wir waren fast hundert, unter uns auch Priester und Nonnen, die alle im Regen standen und auf das Bildnis schauten.
»Gegrüßt seist du, Heilige Mutter Maria der Unbefleckten Empfängnis!« sagte jemand neben mir, als der letzte Glockenton verklungen war.
»Gegrüßt seist du, Maria«, antworteten alle.
Ein Wärter stürzte herbei und bat uns, keinen Lärm zu machen, wir würden die anderen Pilger stören.
»Wir kommen von weit her«, sagte ein Mann aus unserer Gruppe.
»Die da auch«, antwortete der Wärter und wies auf die anderen Leute, die im Regen beteten. »Und sie beten schweigend.«
Ich hoffte inständig, daß der Wärter endlich gehen würde. Ich wollte allein mit ihm sein, weit von hier, seine Hände halten und sagen, was ich fühlte.