Wir mußten über das Haus reden, Pläne schmieden, über die Liebe reden. Ich mußte, was mich betraf, seine Zweifel zerstreuen, ihm meine Zuneigung zeigen, ihm sagen, daß er seinen Traum verwirklichen konnte – denn ich würde an seiner Seite sein und ihm helfen.
Dann entfernte sich der Wärter, und ein Priester begann leise den Rosenkranz zu beten. Als wir beim Credo angelangt waren, das die Reihe der Gebete abschließt, schwiegen alle mit geschlossenen Augen.
»Wer sind diese Leute?« fragte ich.
»Charismatiker«, sagte er.
Dieses Wort hatte ich schon gehört, wußte aber nicht genau, was es bedeutete.
»Das sind Leute, die das Feuer des Heiligen Geistes annehmen«, sagte er zur Erläuterung. »Das Feuer, das Jesus hinterlassen hat und an dem nur wenige ihre Kerzen angezündet haben. Es sind Leute, die der Wahrheit nahe sind, wie zu urchristlichen Zeiten, als alle noch Wunder tun konnten.
Es sind Leute, die von der Frau im Sonnenmantel geführt werden.« Und er deutete mit dem Blick auf die Heilige Jungfrau.
Wie auf einen geheimen Befehl begann die Gruppe leise zu singen.
»Dir klappern ja die Zähne vor Kälte. Du brauchst nicht teilzunehmen«, sagte er.
»Bleibst du?«
»Ich bleibe. Dies ist mein Leben.«
»Dann möchte ich auch teilnehmen«, antwortete ich, obwohl ich lieber weit weg von dort gewesen wäre. »Wenn das deine Welt ist, möchte ich lernen, daran teilzuhaben.«
Die Gruppe sang immer noch. Ich schloß die Augen und versuchte der Musik zu folgen, obwohl ich nicht gut Französisch konnte. Ich sprach die Worte nach, ohne sie zu verstehen. Das ließ die Zeit schneller verstreichen.
Bald würde das hier zu Ende sein. Dann könnten wir endlich nach Saint-Savin zurückkehren, nur wir beide.
Ich sang mechanisch weiter. Ganz allmählich spürte ich, wie die Musik sich meiner bemächtigte, als hätte sie eigenes Leben, als könnte sie mich hypnotisieren. Ich spürte weder die Kälte noch den Regen – und dachte nicht mehr daran, daß ich keine Wäsche zum Wechseln dabeihatte. Die Musik tat mir gut, sie ließ meinen Geist fröhlich werden, trug mich in eine Zeit zurück, in der Gott mir näher war und mir geholfen hatte. Als ich mich fast ganz hingegeben hatte, verstummte die Musik.
Ich öffnete die Augen. Dieses Mal war es nicht der Wärter, sondern ein Pater, der wandte sich an einen Priester aus der Gruppe. Sie redeten leise miteinander, und der Pater ging wieder.
Der Priester wandte sich an uns.
»Wir müssen unsere Gebete auf der anderen Seite des Flusses sprechen«, sagte er. Schweigend gingen wir zu der uns angewiesenen Stelle. Wir überquerten die fast gegenüber der Grotte liegende Brücke und gelangten auf das andere Ufer. Dort war es schöner: Bäume, eine große Wiese und der Fluß – der jetzt zwischen uns und der Grotte lag. Von dort aus konnten wir das erleuchtete Bildnis der Heiligen Jungfrau besser sehen und, ohne das unangenehme Gefühl zu haben, das Gebet der anderen zu stören, die Stimme freier erklingen lassen.
Die ganze Gruppe schien das auch so zu empfinden: alle begannen, das Gesicht zum Himmel gewandt, lauter zu singen.
Und sie lächelten, während der Regen ihnen übers Gesicht rann.
Jemand hob die Arme, und schon hatten alle die Arme erhoben und wiegten sich im Rhythmus der Musik.
Ich versuchte angestrengt, es ihnen gleichzutun – doch ich wollte auch aufmerksam verfolgen, was sie machten. Ein Priester neben mir sang auf spanisch, und ich begann seine Worte zu wiederholen. Es waren Anrufungen des Heiligen Geistes, der Heiligen Jungfrau – sie möchten gegenwärtig sein und ihren Segen und ihre Kraft über einen jeden von uns ausgießen.
»Möge der Heilige Geist über uns kommen«, sagte ein anderer Priester und wiederholte den Satz auf spanisch, italienisch und französisch.
Was dann geschah, überstieg mein Verständnis. Jeder der Anwesenden begann, in einer unbekannten Sprache zu sprechen. Es klang wie eine Sprache mit Worten, die direkt aus der Seele zu kommen schienen und keinen logischen Sinn ergaben. Mir fiel kurz unser Gespräch in der Kirche ein, als er mir von der Erleuchtung erzählt hatte – daß nämlich alle Weisheit darin bestand, auf seine eigene Seele zu hören.
›Vielleicht ist dies ja die Sprache der Engel‹, dachte ich, während ich versuchte, es ihnen nachzutun – und mir lächerlich vorkam.
Alle schauten auf die Heilige Jungfrau auf der anderen Seite des Baches und waren wie in Trance. Ich suchte ihn mit dem Blick und entdeckte ihn unweit, wie er, die Hände zum Himmel erhoben, dieselben schnellen Worte sprach; es klang, als würde er ein Gespräch mit ihr führen. Er lächelte, nickte mal zustimmend, dann wieder überrascht. ›Das ist also seine Welt‹, dachte ich. All das erschreckte mich. Der Mann, den ich an meiner Seite haben wollte, sagte, daß Gott auch eine Frau war, redete unverständliche Sprachen, war in Trance und schien den Engeln nah. Das Haus in den Bergen wurde immer unwirklicher, als gehörte es einer Welt an, die er weit hinter sich gelassen hatte. All die Tage seit dem Vortrag in Madrid waren mir wie ein Traum vorgekommen, eine Reise außerhalb der Zeit und des Raumes meines Lebens. Dennoch hatte dieser Traum den Geschmack der weiten Welt, des Romans, neuer Abenteuer. Sosehr ich mich auch wehrte, so wußte ich doch, wie leicht das Herz einer Frau in Liebe entflammt und daß es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie den Wind ungehindert brausen und das Wasser die Mauer des Staudamms zerstören ließe. Ich mochte mich noch sehr wehren und glauben, daß ich aus vergangenen Verliebtheiten gelernt hätte, auch mit dieser Situation fertig zu werden. Was aber jetzt, hier, geschah, das konnte ich nicht begreifen. Dies war nicht der Katholizismus, den man mich in der Schule gelehrt hatte. So hatte ich mir den Mann meines Lebens nicht vorgestellt.
›Der Mann meines Lebens, wie merkwürdig‹, sagte ich mir, überrascht von den Worten, die mir in den Sinn gekommen waren.
Dort am Bach, gegenüber der Grotte, fühlte ich Angst und Eifersucht. Angst, weil alles dies neu für mich war, und was neu ist, erschreckt mich immer. Eifersucht, weil ich allmählich begriff, daß seine Liebe größer war, als ich gedacht hatte, Bereiche mit einschloß, in die ich nie vorgedrungen war.
»Vergib mir, Heilige Mutter Gottes«, sagte ich. »Vergib mir, denn ich bin kleinlich, engherzig, weil ich die Liebe dieses Mannes ganz allein für mich haben will. Und wenn es nun wirklich seine Berufung war, die Welt zu verlassen, sich in das Priesterseminar einzuschließen und mit den Engeln zu reden?« Wie lange würde er widerstehen, bevor er das Haus, die Schallplatten und die Bücher hinter sich ließ und seiner wahren Bestimmung folgte? Und selbst wenn er nicht wieder ins Seminar zurückging, welchen Preis müßte er dafür zahlen, daß ich ihn von seinem wahren Traum fernhielt?
Alle schienen ganz und gar in ihrem Tun aufzugehen, nur ich nicht. Mein Blick hing an ihm, und er redete die Sprache der Engel.
Einsamkeit trat an die Stelle von Angst und Eifersucht. Die Engel hatten jemanden, mit dem sie reden konnten, und ich war allein.
Ich weiß nicht, was mich dazu trieb, zu versuchen, diese merkwürdige Sprache zu sprechen. Vielleicht der übermächtige Wunsch, ihm zu begegnen, ihm zu sagen, was ich fühlte.
Vielleicht mußte meine Seele mit mir reden – mein Herz war voller Zweifel und brauchte dringend Antworten.
Ich wußte nicht genau, was ich tun sollte. Das Gefühl, lächerlich zu wirken, war sehr stark. Doch hier waren Männer und Frauen allen Alters, Priester und Laien, Novizen und Nonnen, Schüler und alte Menschen versammelt. Sie gaben mir Mut, und ich bat den Heiligen Geist, mir zu helfen, die Mauer der Angst zu überwinden.
›Versuch es‹, sagte ich mir. ›Du mußt nur den Mund aufmachen und den Mut aufbringen, Dinge zu sagen, die du nicht verstehst. Versuch es.‹
Ich versuchte es. Doch zuvor betete ich, daß diese Nacht, die einem langen Tag folgte, von dem ich nicht mehr recht wußte, wie er angefangen hatte, eine Epiphanie werden möge, ein Neuanfang für mich.