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»Haben Sie schon einmal von einem Buch mit dem Titel I Ging gehört?« fragte ich.

»Noch nie.«

»Da heißt es, daß man eine Stadt versetzen kann, aber keinen Brunnen. Die Liebenden treffen sich am Brunnen, stillen dort ihren Durst, bauen dort ihre Häuser, ziehen dort ihre Kinder auf.

Doch wenn einer von ihnen beschließt zu gehen, kann der Brunnen ihm nicht folgen. Die Liebe bleibt dort verlassen zurück

– obwohl der Brunnen immer noch mit demselben reinen Wasser gefüllt ist.«

»Sie reden wie eine Alte, die schon viel gelitten hat, mein Kind«, sagte sie.

»Nein, ich hatte immer nur Angst. Ich habe nie den Brunnen gegraben. Jetzt tue ich es, doch ich sehe auch die Gefahren.«

Ich spürte einen sperrigen Gegenstand in der Hosentasche. Als ich nachfühlte, wich mir das Blut aus dem Herzen. Schnell trank ich meinen Kaffee aus.

Es war der Schlüssel. Ich hatte den Schlüssel. »Hier in der Stadt ist doch kürzlich eine Frau gestorben, die alles dem Priesterseminar in Tarbes vermacht hat«, sagte ich.

»Wissen Sie, wo ihr Haus steht?«

Die Frau öffnete die Tür und zeigte es mir. Es war eines der mittelalterlichen Häuser am kleinen Platz, das nach hinten zum Tal und zu den Bergen hinausging.

»Zwei Pater waren fast zwei Monate dort«, sagte sie. »Und…«

Sie sah mich nachdenklich an.

»Und einer sah Ihrem Mann ähnlich«, sagte sie nach einer langen Pause.

»Er war es«, sagte ich, während ich hinausging, und war hoch zufrieden, weil ich zugelassen hatte, daß sich das Kind in mir einen kleinen Streich erlaubte.

Ich blieb unschlüssig vor dem Haus stehen. Nebel hüllte alles ein, und mir war, als träte ich in einen grauen Traum ein, in dem seltsame Figuren auftauchen, die uns an noch seltsamere Orte führen.

Meine Finger betasteten nervös den Schlüssel.

Bei diesem Nebel könnte ich unmöglich vom Fenster aus die Berge sehen. Das Haus würde düster sein ohne die Sonne in den Vorhängen. Das Haus würde ohne ihn traurig wirken.

Ich sah auf die Uhr. Es war neun.

Ich mußte irgend etwas tun, irgend etwas, was die Zeit schneller vergehen ließ, mir das Warten verkürzte.

Warten. Das war die erste Lektion über die Liebe, die ich gelernt hatte. Der Tag zieht sich endlos dahin, man macht tausend Pläne, stellt sich vor, was man ihm später sagen wird, verspricht sich selbst, anders zu werden – und man erwartet unruhig und sehnsüchtig den Liebsten.

Ist er da, weiß man nicht mehr, was man sagen wollte. In diesen Stunden des Wartens baut sich Anspannung auf, die zu Angst wird, und die Angst führt dazu, daß wir uns schämen, unsere Gefühle zu zeigen. ›Ich weiß nicht, ob ich dort hineingehen soll.‹ Mir fiel das Gespräch vom Vortag wieder ein – dieses Haus war das Symbol eines Traumes.

Doch ich konnte nicht den ganzen Tag lang dort stehenbleiben.

Ich nahm all meinen Mut zusammen, zog den Schlüssel aus der Tasche und ging auf die Tür zu. »Pilar!«

Die Stimme mit starkem französischem Akzent kam aus dem Nebel. Ich war eher überrascht als erschreckt. Es könnte der Besitzer des Hauses sein, bei dem wir ein Zimmer gemietet hatten – aber ich konnte mich nicht daran erinnern, ihm meinen Namen genannt zu haben.

»Pilar!« erklang die Stimme, diesmal etwas näher.

Ich blickte auf den im Nebel liegenden Platz.

Eine Gestalt näherte sich schnellen Schrittes. Der Alptraum des Nebels mit seinen seltsamen Wesen wurde Wirklichkeit.

»Warten Sie«, sagte die Gestalt. »Ich muß mit Ihnen reden.«

Als sie näher kam, sah ich, daß es ein Pater war. Er wirkte wie eine dieser Karikaturen eines Provinzpaters: klein, dicklich, ein paar weiße Haare auf dem fast kahlen Schädel.

»Hallo«, sagte er und streckte mir mit einem breiten Lächeln seine Hand hin.

Ich war sprachlos und konnte nur nicken.

»Schade, daß der Nebel alles einhüllt«, sagte er mit einem Blick auf das Haus. »Saint-Savin liegt auf einem Berg, und die Aussicht von diesem Haus aus ist wunderschön. Von den Fenstern aus sieht man das Tal dort unten und oben die beschneiten Gipfel. Aber das wissen Sie schon, nicht wahr?«

Da wußte ich, wer er war: der Superior des Klosters.

»Was machen Sie denn hier?« fragte ich. »Und woher kennen Sie meinen Namen?«

»Wollen Sie nicht hereinkommen?« fragte er, das Thema wechselnd.

»Nein. Ich möchte, daß Sie auf meine Frage antworten.« Er rieb sich die Hände, um sie zu wärmen, und setzte sich auf den Bordstein. Ich setzte mich neben ihn. Der Nebel wurde immer dichter und hatte inzwischen die Kirche verschluckt, die nur zwanzig Meter von uns entfernt lag.

Wir konnten nur den Brunnen sehen. Ich dachte an die Worte der Frau.

»Sie ist hier«, sagte ich.

»Wer?«

»Die Göttin«, antwortete ich. »Sie ist im Nebel.«

»Er hat also mit Ihnen darüber gesprochen!« sagte er lachend.

»Nun, ich nenne sie lieber die Heilige Jungfrau Maria. Ich bin das so gewohnt.«

»Was machen Sie hier? Woher kennen Sie meinen Namen?«

wiederholte ich.

»Ich wollte Sie beide sehen. Jemand, der gestern in der Gruppe der Charismatiker war, hat mir erzählt, daß Sie in Saint-Savin abgestiegen sind. Und Saint-Savin ist eine sehr kleine Stadt.«

»Er ist zum Seminar gefahren.«

Der Pater hörte auf zu lächeln und wiegte seinen Kopf.

»Wie schade«, sagte er, als würde er mit sich selbst reden.

»Schade, daß er zum Priesterseminar gefahren ist?«

»Nein, dort ist er nicht. Da komme ich gerade her.«

Einige Minuten lang sagte ich nichts. Ich erinnerte mich wieder an das Gefühl, das ich am Morgen gehabt hatte: das Geld, die Vorkehrungen, das Telefonat mit meinen Eltern, die Fahrkarte.

Doch ich hatte einen Schwur getan, und den würde ich halten.

Ein Pater saß neben mir. Als Kind hatte ich alles den Patern gebeichtet.

»Ich bin erschöpft«, sagte ich, das Schweigen brechend. »Vor nicht einmal einer Woche wußte ich, wer ich war und was ich vom Leben erwartete. Jetzt ist mir, als wäre ich in einen Sturm geraten, der mich hin und her schüttelt und dem ich wehrlos ausgeliefert bin.«

»Halten Sie stand«, sagte der Pater. »Das ist wichtig.« Ich war über diese Bemerkung verwundert.

»Erschrecken Sie nicht«, fuhr er fort, als hätte er meine Gedanken erraten. »Ich weiß, daß die Kirche junge Priester braucht, und er wäre ein ausgezeichneter Priester. Doch der Preis, den er dafür zahlen müßte, ist sehr hoch.«

»Wo ist er? Hat er mich hiergelassen und ist nach Spanien zurückgefahren?«

»Nach Spanien? In Spanien hat er nichts zu tun«, sagte der Pater. »Sein Haus ist das Kloster, und das liegt wenige Kilometer von hier entfernt. Dort ist er nicht. Aber ich weiß, wo ich ihn finden kann.«

Seine Worte machten mich wieder froh und gaben mir meinen Mut zurück. Wenigstens war er nicht fort.

Doch der Pater lächelte nicht mehr.

»Freuen Sie sich nicht zu sehr«, fuhr er fort, als hätte er wieder meine Gedanken erraten. »Es wäre besser gewesen, er wäre nach Spanien zurückgekehrt.«

Der Pater erhob sich und bat mich, ihn zu begleiten. Man konnte nur wenige Meter weit sehen, doch er schien zu wissen, wohin er wollte. Wir verließen Saint-Savin auf demselben Weg, den wir zwei – oder waren es schon fünf? – Nächte zuvor gefahren waren, als er mir die Geschichte der Bernadette erzählt hatte.

»Wohin gehen wir?« fragte ich.

»Wir werden ihn holen«, sagte der Pater.