»Pater, Sie verwirren mich«, sagte ich, während wir gingen.
»Wie mir scheint, hat es Sie betrübt zu hören, daß er nicht dort sei.«
»Was wissen Sie über das Priesterleben, mein Kind?«
»Sehr wenig. Daß die Pater Armut, Keuschheit und Gehorsam geloben.«
Ich zögerte etwas und sagte dann doch: »Und daß sie über die Sünden der anderen richten, obwohl sie die gleichen Sünden begehen. Daß sie glauben, über die Ehe und die Liebe alles zu wissen, aber nie heiraten. Daß sie uns wegen Dingen mit der Hölle drohen, die sie selbst auch tun. Und uns einen rächenden Gott zeigen, der den Menschen die Schuld am Tode seines einzigen Sohnes gibt.«
Der Pater lachte.
»Sie haben eine ausgezeichnete katholische Erziehung genossen«, sagte er. »Doch ich frage nicht nach dem Katholizismus, ich frage nach dem spirituellen Leben.«
Ich sagte nichts.
»Ich weiß es nicht genau«, meinte ich schließlich. »Es sind Menschen, die alles aufgeben und sich auf die Suche nach Gott machen.«
»Und finden sie ihn?«
»Die Antwort kennen Sie. Ich habe keine Ahnung.«
Der Pater bemerkte, daß ich keuchte, und verlangsamte seine Schritte.
»Ihre Definition stimmt nicht«, begann er. »Wer auf die Suche nach Gott geht, vertut seine Zeit. Er kann viele Wege gehen, sich vielen Religionen und Sekten anschließen – doch so wird er Ihn niemals finden. Gott ist hier bei uns. Wir können Ihn hier im Nebel sehen, auf diesem Boden, in dieser Kleidung, in diesem Schuh. Seine Engel wachen über uns, wenn wir schlafen, und helfen uns bei unserer Arbeit. Um Gott zu finden, müssen wir nur um uns blicken. Doch ist es nicht einfach, Ihn zu finden. In dem Maße, in dem Gott uns an Seinem Mysterium teilhaben läßt, fühlen wir uns immer orientierungsloser. Denn Er will von uns, daß wir unseren Träumen und der Stimme unseres Herzens folgen. Doch dies fällt uns schwer, weil wir anders zu leben gewohnt sind. Und dann stellen wir verwundert fest, daß Gott will, daß wir glücklich sind, weil Er ein Vater ist.«
»Und eine Mutter«, sagte ich.
Der Nebel begann sich zu lichten. Ich konnte ein kleines Bauernhaus erkennen, bei dem eine Frau Holz sammelte.
»Ja, und Mutter«, sagte er. »Um ein spirituelles Leben zu führen, muß man weder in ein Priesterseminar eintreten noch fasten, noch abstinent sein, noch keusch. Es reicht, zu glauben und Gott zu akzeptieren. Von dort aus wird jeder zu Seinem Weg, werden wir zum Instrument Seiner Wunder.«
»Er hat mir schon von Ihnen erzählt«, unterbrach ich ihn. »Und er hat mich dieselben Dinge gelehrt.«
»Ich hoffe, Sie akzeptieren Ihre Gaben«, antwortete der Pater,
»denn nicht immer wiederholt sich, was uns die Geschichte gelehrt hat. Osiris wurde in Ägypten gevierteilt. Die griechischen Götter zerstritten sich über die Frauen und Männer auf Erden. Die Azteken vertrieben Quetzalcoatl. Die nordischen Götter sahen zu, wie Walhalla wegen einer Frau in Flammen aufging. Jesus wurde gekreuzigt. Und weshalb?«
Ich wußte keine Antwort darauf.
»Weil Gott auf die Erde kommt, um uns Seine Macht zu zeigen.
Wir sind Teil Seines Traumes, und Er will, daß es ein glücklicher Traum sei. Dennoch, wenn wir uns eingestehen, daß Gott uns zum Glück geschaffen hat, müssen wir annehmen, daß alles, was uns Traurigkeit und Niederlagen bringt, unsere eigene Schuld ist. Deshalb töten wir Gott immer wieder. Sei es am Kreuz, im Feuer, im Exil, sei es in unserem Herzen.«
»Doch die, die Ihn verstehen…«
»…die verändern die Welt. Unter großen Opfern.«
Die Frau, die das Holz trug, sah den Pater und kam zu uns gelaufen.
»Danke, Pater!« sagte sie und küßte ihm die Hände. »Der junge Mann hat meinen Mann geheilt!«
»Geheilt hat ihn die Heilige Jungfrau«, antwortete der Pater und beschleunigte seinen Schritt. »Er ist nur ihr Werkzeug.«
»Er war es. Treten Sie bitte ein.«
Da fiel es mir wieder ein: Als wir am Abend zuvor bei der Basilika angekommen waren, hatte ein Mann so etwas wie ›Sie befinden sich in Begleitung eines Mannes, der Wunder tut!‹
gesagt.
»Wir haben es eilig«, sagte der Pater. »Nein, wir haben es nicht eilig«, antwortete ich und schämte mich in Grund und Boden wegen meines Französisch. »Mir ist kalt, und ich möchte einen Kaffee trinken.«
Die Frau nahm mich bei der Hand, und wir traten ins Haus. Das Haus war heimelig, jedoch ganz einfach. Die Wände aus Stein, Boden und Decke aus Holz. Vor dem brennenden Kamin saß ein Mann von etwa sechzig Jahren.
Sobald er den Pater sah, erhob er sich, um ihm die Hand zu küssen.
»Bleiben Sie sitzen«, sagte der Pater. »Sie müssen sich noch schonen.«
»Ich habe schon mehrere Pfund zugenommen«, entgegnete der Mann. »Doch meiner Frau kann ich noch nicht wieder helfen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Bald wird es Ihnen besser gehen als je zuvor.«
»Wo ist der junge Mann?« fragte der Mann.
»Ich sah ihn vorbeikommen, in der Richtung, in die er immer geht«, sagte die Frau. »Nur fuhr er heute im Auto.«
Der Pater blickte mich wortlos an.
»Segnen Sie uns, Pater«, sagte die Frau. »Seine Kraft –«
»– die Kraft der Heiligen Jungfrau«, unterbrach sie der Pater.
»… die Kraft der Heiligen Jungfrau ist auch Ihre Kraft. Sie haben ihn hierhergebracht.«
Diesmal wich der Pater meinem Blick aus.
»Segnen Sie meinen Mann, Pater«, beharrte die Frau.
»Sprechen Sie ein Gebet für ihn.«
Der Pater holte tief Luft.
»Stellen Sie sich vor mich«, sagte er zum Mann.
Der Alte gehorchte. Der Pater schloß die Augen und betete ein Ave-Maria. Dann rief er den Heiligen Geist an und bat ihn, anwesend zu sein und diesem Mann zu helfen.
Plötzlich sprudelten die Worte aus ihm hervor. Obwohl ich nicht recht verstand, was er sagte, klang es wie ein Exorzismusgebet. Seine Hände berührten die Schultern des Mannes und strichen über dessen Arme. Er wiederholte diese Geste mehrfach.
Das Feuer im Kamin prasselte lauter. Es konnte ein Zufall sein, doch vielleicht begab sich jetzt der Pater in Bereiche, die ich nicht kannte – und die die Elemente beeinflußten.
Die Frau und ich fuhren jedesmal zusammen, wenn ein Holzscheit knackte. Der Pater bemerkte es nicht. Er war in sein Tun versunken – ein Werkzeug der Heiligen Jungfrau, wie er zuvor gesagt hatte. Er redete in fremden Zungen. Seine Hände lagen jetzt reglos auf den Schultern des Mannes vor ihm.
So unvermittelt, wie es begonnen hatte, endete das Ritual. Der Pater wandte sich um und sprach den üblichen Segen, indem er mit der rechten Hand das Zeichen des Kreuzes machte.
»Gott möge immer in diesem Hause sein«, sagte er.
Und indem er sich mir zuwandte, bat er mich, unsere Wanderung fortzusetzen.
»Aber Sie haben Ihren Kaffee noch nicht getrunken«, sagte die Frau, als sie uns hinausbegleitete.
»Wenn ich jetzt Kaffee trinke, kann ich später nicht schlafen«, antwortete der Pater.
Die Frau lachte und murmelte so etwas wie: »Aber es ist doch erst Morgen.« Ich konnte es nicht genau hören, denn wir standen schon wieder auf der Straße.
»Pater, die Frau sagte, ein junger Mann habe Ihren Mann geheilt. War er es?«
»Ja, er war es.«
Mir wurde schwindlig. Ich erinnerte mich an gestern, an Bilbao, den Vortrag in Madrid, an die Leute, die von Wundern gesprochen hatten, an eine Präsenz von etwas, die ich gefühlt hatte, während ich mit den anderen einen Kreis bildete.
Ich liebte also einen Mann, der heilen konnte. Einen Mann, der seinem Nächsten diente, Leid linderte, dem Kranken Gesundheit und dessen Verwandten wieder Hoffnung geben konnte. Das war eine Aufgabe, die nicht in ein Haus mit weißen Gardinen und Lieblingsplatten und -büchern paßte.
»Fühlen Sie sich nicht schuldig, mein Kind«, sagte er.
»Sie lesen meine Gedanken.«