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»Und kann sie es denn nicht?«

»Doch. Allerdings erst, wenn die Zeit dafür reif ist. Dann, wenn die himmlischen Schlachten beendet sind.«

»Ich liebe ihn. Und muß nicht auf den Sieg meiner Liebe warten, bis die himmlischen Schlachten ausgetragen sind.«

Sein Blick schweifte in die Ferne.

»An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten«, sagte er, als würde er zu sich sprechen. »Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande.«

»Wie traurig«, meinte ich.

»Es sind die ersten Zeilen eines Psalms. Er spricht vom Exil, von denen, die in das Gelobte Land zurückwollen und es nicht können. Und dieses Exil wird noch einige Zeit dauern. Was aber kann ich tun, um zu verhindern, daß jemand leidet, der zu früh in das Paradies zurückkehren will?«

»Nichts, Pater. Überhaupt nichts.«

»Da ist er«, sagte der Pater.

Ich sah ihn. Er kniete etwa zweihundert Meter von uns entfernt im Schnee. Er war in Hemdsärmeln, und ich konnte sogar aus dieser Entfernung erkennen, daß seine Haut rot vor Kälte war.

Er hielt den Kopf gesenkt, die Hände zum Gebet gefaltet. Ich weiß nicht, ob es wegen des Rituals war, an dem ich in der vergangenen Nacht teilgenommen hatte, oder wegen der Brennholz sammelnden Frau bei der Hütte, aber ich spürte, daß ich jemanden betrachtete, von dem eine ungeheure spirituelle Kraft ausging. Jemand, der nicht mehr dieser Welt angehörte, jemand, der eins mit Gott war und den erleuchteten Geistern des Himmels. Der gleißende Schnee verstärkte diesen Eindruck noch.

»Auf diesem Berg sind noch andere wie er«, sagte der Pater.

»In ständigem Gebet versunken, teilen sie miteinander die Erfahrung, eins mit Gott und der Heiligen Jungfrau zu sein, lauschen sie den Engeln, den Heiligen und den Prophezeiungen und geben dies an eine kleine Gruppe von Gläubigen weiter. Solange er nur das tut, wird er keine Schwierigkeiten bekommen. Doch wird er es nicht dabei belassen. Er wird durch die Welt ziehen und die Lehre von der Großen Mutter verbreiten. Die Kirche duldet das jetzt noch nicht. Viele stehen schon bereit, um jeden zu steinigen, der dieses Thema berührt.«

»Aber diejenigen, die ihnen folgen, werden mit einem Blumenregen begrüßt werden.«

»Ja. Aber er noch nicht.« Der Pater schritt weiter auf ihn zu.

»Wohin gehen Sie?«

»Ich werde ihn aus seiner Trance wecken. Ihm sagen, daß Sie mir gefallen haben und daß ich Ihrer Verbindung meinen Segen gebe. Ich möchte das hier tun, an diesem Ort, der ihm heilig ist.«

Mir wurde schlecht, Angst schnürte mir die Kehle zu, doch warum ich diese Angst verspürte, konnte ich mir nicht erklären.

»Ich muß nachdenken, Pater. Ich bin mir nicht sicher, ob das richtig ist.«

»Es ist nicht richtig«, antwortete er. »Viele Eltern handeln falsch an ihren Kindern, weil sie glauben, sie wüßten, was für sie das Beste ist. Ich bin nicht sein Vater und weiß, daß ich nicht richtig handle. Dennoch muß ich mein Schicksal erfüllen.«

»Stören Sie ihn nicht«, sagte ich. »Lassen Sie ihn selbst aus seiner Versenkung herausfinden.«

»Er sollte nicht hier sein. Er sollte bei Ihnen sein.«

»Vielleicht spricht er mit der Heiligen Jungfrau.«

»Mag sein. Dennoch muß ich zu ihm. Wenn er mich mit Ihnen zusammen sieht, weiß er, daß ich Ihnen alles erzählt habe. Er weiß, was ich darüber denke.«

»Heute ist der Tag der Unbefleckten Empfängnis«, beharrte ich.

»Für ihn ist das ein ganz besonderer Tag. Ich habe seine Freude gestern nacht vor der Grotte miterlebt.« »Die Unbefleckte Empfängnis ist für uns alle wichtig«, antwortete der Pater. »Aber jetzt will ich mich nicht über Religion streiten: Gehen wir zu ihm.«

»Warum jetzt, Pater? Warum ausgerechnet jetzt?«

»Weil er dabei ist, die Entscheidung über seine Zukunft zu treffen. Und es könnte sein, daß er sich für den falschen Weg entscheidet.«

Ich wandte mich um und begann den Weg hinunterzugehen, den wir heraufgekommen waren.

»Was tun Sie? Sehen Sie denn nicht, daß Sie die einzige sind, die ihn retten können? Sehen Sie nicht, daß er Sie liebt und für Sie alles aufgeben würde?«

Ich ging schneller, er hatte Mühe, mir zu folgen, und doch blieb er mir dicht auf den Fersen.

»Jetzt ist der Augenblick, in dem er sich entscheidet! Vielleicht entscheidet er sich gegen Sie!« sagte der Pater. »Kämpfen Sie um das, was Sie lieben!«

Doch ich ging weiter. Ich ging, so schnell ich konnte, ließ das Gebirge, den Pater, die Entscheidungen hinter mir. Der Mann, der hinter mir herlief, las meine Gedanken, daher mußte er wissen, daß er mich nicht umstimmen konnte. Dennoch ließ er nicht locker, argumentierte, kämpfte bis zum Ende.

Schließlich gelangten wir zu dem Stein, bei dem wir eine halbe Stunde zuvor gerastet hatten. Erschöpft warf ich mich auf den Boden.

Ich dachte an nichts. Ich wollte nur weg, allein sein, Zeit haben, um nachzudenken.

Der Pater kam wenige Minuten später. Auch er war von dem Weg erschöpft.

»Sehen Sie die Berge ringsum?« fragte er. »Sie beten nicht; sie sind bereits Gottes Gebet. Sie sind es, weil sie ihren Platz in der Welt gefunden haben und dort bleiben. Sie waren schon dort, bevor der Mensch in den Himmel blickte, den Donner hörte und sich fragte, wer dies alles geschaffen hat. Wir werden geboren, leiden, sterben, aber die Berge bleiben unverändert an ihrem Platz. Irgendwann in unserem Leben kommt der Augenblick, in dem wir uns fragen, ob sich die ganze Anstrengung überhaupt lohnt. Warum versuchen wir nicht zu sein wie diese Berge – weise, alt und an dem Platz, der uns entspricht? Warum alles aufs Spiel setzen, um ein halbes Dutzend Menschen zu verändern, die doch schnell wieder vergessen, was sie gelehrt wurden, und zu neuen Abenteuern aufbrechen? Warum nicht warten, bis eine bestimmte Anzahl Affenmenschen Wissen erworben hat und dieses, ohne Leiden zu verursachen, auf alle anderen Inseln übergeht?«

»Glauben Sie das wirklich, Pater?«

Er schwieg eine Weile.

»Lesen Sie Gedanken?«

»Nein. Aber wenn Sie das wirklich glaubten, hätten Sie nicht das Priesterleben gewählt.«

»Ich versuche immer wieder, mein Schicksal zu begreifen«, sagte er. »Und es gelingt mir nicht. Ich habe eingewilligt, unter dem Banner Gottes zu kämpfen, und ich habe unablässig versucht, den Menschen zu erklären, warum es Elend, Schmerz und Ungerechtigkeit gibt. Ich bitte sie, gute Christen zu sein, und sie fragen mich: ›Wie kann ich an Gott glauben, wo es so viel Leid auf der Welt gibt?‹ Und ich versuche ihnen zu erklären, daß es keine Erklärung dafür gibt. Ich versuche ihnen zu sagen, daß es einen Plan gibt, einen Kampf zwischen den Engeln, und daß wir in diesen Kampf verwickelt sind. Ich versuche ihnen zu sagen, daß in dem Augenblick, wo der Glaube einer bestimmten Anzahl von Menschen stark genug ist, um dieses Szenario zu verändern, diese Veränderung allen anderen Menschen überall auf der Welt zugute kommen wird.

Doch sie glauben mir nicht. Sie tun nichts.«

»Sie sind wie die Berge«, sagte ich. »Die Berge sind schön.

Wer vor ihnen steht, kann nicht umhin, an die Größe der Schöpfung zu denken. Sie sind lebende Beweise für die Liebe, die Gott für uns empfindet, doch die Bestimmung dieser Berge ist es, nur Zeugnis für diese Liebe abzulegen. Sie sind nicht wie die Flüsse, die sich bewegen und die Landschaft verändern.« »Ja. Aber warum nicht sein wie sie?«

»Weil das Schicksal der Berge ein hartes Schicksal ist«, antwortete ich. »Sie sind gezwungen, immer dieselbe Landschaft anzuschauen.« Der Pater sagte darauf nichts. »Ich habe studiert, um ein Berg zu werden«, fuhr ich fort. »Jedes Ding hatte seinen Platz. Ich wollte Beamtin werden, heiraten, meine Kinder im Glauben meiner Eltern erziehen, obwohl ich ihn selbst verloren hatte. Heute bin ich entschlossen, dies alles aufzugeben und dem Mann zu folgen, den ich hebe. Zum Glück habe ich aufgehört, ein Berg sein zu wollen, lange hätte ich es nicht mehr ausgehalten.«