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»Vielen Dank für die Einladung«, antwortete ich. »Aber ich habe kein Geld für ein Hotel, ich muß wieder zurück zu meinen Büchern.«

»Ich habe etwas Geld. Du kannst in meinem Zimmer schlafen.

Wir nehmen ein Zimmer mit zwei getrennten Betten.«

Ich bemerkte, daß er zu schwitzen begann, obwohl es kalt war.

Mein Herz sandte Alarmsignale aus, die ich nicht entschlüsseln konnte. An die Stelle der Freude, die ich eben noch verspürt hatte, trat unendliche Verwirrung.

Er hielt plötzlich den Wagen an, sah mir direkt in die Augen.

Niemand kann lügen, niemand kann etwas verbergen, wenn man ihm direkt in die Augen sieht.

Und jede Frau, die auch nur ein bißchen Einfühlungsvermögen besitzt, kann in den Augen eines verliebten Mannes lesen.

Gleichgültig, wie absurd es anmuten mag, gleichgültig, ob diese Liebe sich unerwartet am falschen Ort und zur falschen Zeit zeigt. Ich dachte sofort an die Worte der rothaarigen jungen Frau am Brunnen.

Es war unmöglich. Doch es stimmte.

Ich hätte niemals, auf gar keinen Fall, gedacht, daß er sich nach so langer Zeit noch daran erinnerte. Damals waren wir Kinder, hatten unsere Zeit zusammen verbracht und hatten Hand in Hand die Welt entdeckt. Ich hatte ihn geliebt – wenn ein Kind überhaupt weiß, was Liebe bedeutet. Doch dies alles war vor langer, langer Zeit, in einem anderen Leben gewesen, in dem die Unschuld das Herz für das Beste offenhält, was das Leben zu bieten hat.

Jetzt waren wir erwachsen und vernünftig. Und die Kindheit war eben die Kindheit.

Ich sah ihm wieder in die Augen. Ich wollte es nicht glauben, oder konnte es nicht.

»Ich muß noch diesen Vortrag halten, und dann kommen die Empfängnis-Mariä-Feiertage. Ich muß in die Berge«, fuhr er fort. »Ich muß dir etwas zeigen.«

Dieser brillante Mann, der von magischen Augenblicken sprach, saß neben mir und verhielt sich völlig unvernünftig. Er war unsicher, verhedderte sich, machte wirre Vorschläge. Ich konnte es kaum mit ansehen.

Ich öffnete die Wagentür, stieg aus, lehnte mich an den Wagen.

Sah eine Zeitlang den beinahe menschenleeren Boulevard hinunter. Zündete mir eine Zigarette an und versuchte, an nichts zu denken. Ich könnte so tun, als hätte ich nichts gemerkt, so tun, als hätte ich es nicht verstanden – ich könnte mir selbst einreden, daß es tatsächlich nur der Vorschlag eines Freundes an eine Jugendfreundin gewesen war. Vielleicht war er zu lange unterwegs gewesen und brachte daher alles durcheinander.

Aber vielleicht übertrieb ich ja.

Er sprang aus dem Wagen und stellte sich neben mich. »Ich würde mich freuen, wenn du zum Vortrag heute abend hierbleiben würdest«, sagte er noch einmal. »Aber wenn du nicht kannst, verstehe ich das.«

Gut so. Die Welt hatte sich einmal um die eigene Achse gedreht und war an ihren Platz zurückgekehrt. Es war nichts von dem, was ich gedacht hatte. Er beharrte nicht weiter, war schon bereit, mich gehen zu lassen. Verliebte Männer verhalten sich nicht so.

Ich fühlte mich gleichzeitig verrückt und erleichtert. Ja, ich könne bleiben, zumindest noch einen Tag. Wir würden zusammen zu Abend essen und uns ein bißchen betrinken – früher in Soria hatten wir das nie gemacht. Es war eine gute Gelegenheit, um den Unsinn zu vergessen, den ich wenige Minuten zuvor gedacht hatte, und auch, um das Eis zu brechen, das uns seit Madrid getrennt hatte.

Auf einen Tag mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. Außerdem hätte ich dann vielleicht auch meinen Freundinnen etwas zu erzählen.

»Getrennte Betten also«, flachste ich. »Und du bezahlst das Abendessen, denn ich bin immer noch Studentin. Ich habe kein Geld.«

Wir brachten die Koffer aufs Zimmer und gingen dann vom Hotel bis zu dem Ort, an dem der Vortrag stattfinden sollte. Wir waren zu früh da und setzten uns in ein Cafe.

»Ich möchte dir etwas geben«, sagte er und reichte mir einen kleinen roten Beutel.

Ich machte ihn sofort auf. Darin war eine alte, verrostete Medaille, mit der Heiligen Jungfrau der Gnade auf der einen und dem Heiligen Herz Jesu auf der anderen Seite.

»Die hat dir gehört«, sagte er, als er mein überraschtes Gesicht sah.

Mein Herz schlug wieder Alarm.

»Eines Tages, es war Herbst, genau wie jetzt, und wir waren etwa zehn Jahre alt, da habe ich mich mit dir auf den Platz mit der großen Eiche gesetzt. Ich wollte gerade etwas sagen, was ich wochenlang eingeübt hatte, da fielst du mir ins Wort und meintest, du hättest deine Medaille bei der Einsiedelei des heiligen Saturius verloren, und dann hast du mich gebeten, sie für dich zu suchen.«

Ich erinnerte mich. Und ob ich mich daran erinnerte!

»Ich habe sie schließlich gefunden. Doch als ich zum Platz zurückkam, traute ich mich nicht mehr, dir das zu sagen, was ich eingeübt hatte«, fuhr er fort. »Und da habe ich mir geschworen, daß ich dir die Medaille erst dann wiedergeben würde, wenn ich den Satz zu Ende bringen könnte, den ich an jenem Tag vor beinah zwanzig Jahren angefangen hatte. Lange habe ich versucht, ihn zu vergessen, doch der Satz war immer gegenwärtig. Ich kann nicht weiter mit ihm leben.«

Er hatte seine Tasse abgesetzt, eine Zigarette angezündet und starrte zur Decke. Dann wandte er sich mir zu.

»Der Satz ist ganz einfach«, sagte er. »Ich liebe dich.«

Manchmal erfüllt uns eine Traurigkeit, gegen die wir nichts tun können, sagte er. Uns wird bewußt, daß der magische Augenblick eines bestimmten Tages vorbei ist und wir ihn nicht ergriffen haben. Dann verbirgt das Leben seine Magie und seine schöpferische Kraft.

Wir müssen auf das Kind hören, das wir einmal waren und das es immer noch in uns gibt. Dieses Kind erkennt die magischen Augenblicke. Wir können zwar sein Weinen ersticken, doch seine Stimme können wir nicht zum Schweigen bringen.

Dieses Kind, das wir einst waren, ist immer da. Selig sind die Kinder, denn das Himmelreich ist ihr.

Wenn wir nicht aufs neue geboren werden, wenn wir das Leben nicht wieder mit der Unschuld und der Begeisterung der Kindheit betrachten können, hat das Leben keinen Sinn mehr.

Es gibt viele Arten, sich selbst zu töten. Diejenigen, die versuchen, ihren Körper zu töten, übertreten Gottes Gesetz.

Diejenigen, die versuchen, ihre Seele zu töten, übertreten auch Gottes Gesetz, obwohl dieses Verbrechen für das menschliche Auge weniger sichtbar ist. Wir sollten auf das hören, was das Kind sagt, das wir in unserer Brust tragen. Wir sollten uns seiner nicht schämen. Wir sollten nicht zulassen, daß es sich fürchtet, weil es allein ist und wir ihm fast nie zuhören.

Wir sollten ihm die Zügel unseres Daseins überlassen. Wir sollten ihm Vergnügen bereiten – auch wenn dies bedeutet, daß wir anders handeln, als wir es gewohnt sind, auch wenn es in den Augen der anderen dumm erscheinen mag.

Vergeßt nicht, daß die Weisheit des Menschen vor Gott Torheit ist. Wenn wir auf das Kind hören, das wir in der Seele tragen, werden unsere Augen wieder leuchten. Wenn wir den Kontakt zu diesem Kind nicht verlieren, verlieren wir auch nicht den Kontakt zum Leben.

Die Farben um mich herum wurden intensiver; ich merkte, daß ich lauter sprach und das Glas heftiger wieder auf den Tisch stellte.

Ein gutes Dutzend war direkt nach dem Vortrag mit zum Abendessen gegangen. Alle redeten durcheinander, und ich lächelte – lächelte, weil diese Nacht anders war als die anderen. Es war die erste Nacht seit vielen Jahren, die ich nicht geplant hatte.

Es war wunderbar!

Als ich beschlossen hatte, nach Madrid zu fahren, hatte ich meine Gefühle und mein Handeln unter Kontrolle. Plötzlich war alles anders. Ich befand mich in einer Stadt, in der ich nie gewesen war, obwohl sie keine drei Stunden von meiner Geburtsstadt entfernt lag. Ich saß an einem Tisch mit Leuten zusammen, die ich nicht kannte – und alle redeten mit mir, als kennten sie mich schon lange. Ich war überrascht über mich selbst, weil ich reden, trinken und mich mit ihnen amüsieren konnte.