»Guten Tag.«
»Wie heißt diese Ortschaft dort?«
»San Martin de Unx.«
»Unx?« sage ich. »Das hört sich wie der Name eines Erdgeists an.«
Der Alte versteht den Scherz nicht. Etwas verlegen gehe ich zur Tür der Kapelle.
Die Tür steht offen. Wegen der Helligkeit draußen sehe ich das Innere der Kapelle nur undeutlich.
»Nur einen Augenblick. Ich möchte gern beten.« »Tut mir leid. Sie ist schon geschlossen.«
Er hört meinem Gespräch mit dem Alten zu, sagt aber nichts.
»Nun ja, dann gehen wir eben wieder«, sage ich. »Es bringt nichts, darüber einen Streit zu beginnen.«
Er sieht mich weiterhin an. Sein Blick ist leer, in die Ferne gerichtet.
»Willst du die Kapelle denn nicht sehen?« fragt er.
Ich weiß, daß ihm meine Haltung nicht gefällt. Er wird mich für schwach, feige, unfähig halten, meinen Willen durchzusetzen.
Es brauchte keinen Kuß, die Prinzessin verwandelte sich von allein in eine Kröte.
»Denk an gestern«, sage ich. »Gestern im Cafe hast du einfach das Gespräch abgebrochen, weil du keine Lust auf eine Diskussion hattest. Jetzt, wo ich genau das gleiche mache, zeigst du mir, daß es dir nicht gefällt.«
Der Alte schaut unserer Diskussion ungerührt zu.
Wahrscheinlich freut er sich, weil an diesem Ort, an dem alle Morgen, alle Nachmittage, alle Nächte gleich sind, endlich einmal etwas passiert.
»Die Kirchentür steht offen«, sagt er, zum Alten gewandt.
»Wenn Sie Geld haben wollen, bitte sehr. Aber sie möchte die Kirche sehen.«
»Die Zeit ist um.«
»Meinetwegen. Aber wir gehen trotzdem hinein.«
Er packt mich am Arm und tritt mit mir ein.
Ich bekomme Herzklopfen. Der Alte könnte aggressiv werden, die Polizei rufen, uns unsere Wanderung verderben.
»Warum tust du das?«
»Weil du die Kapelle sehen möchtest«, ist seine Antwort.
Aber mir gelingt es nicht, genau zu sehen, wie es drinnen aussieht. Mein Benehmen hat den Zauber eines beinahe vollkommenen Morgens zerstört.
Ich höre nur auf das, was draußen geschieht, ich stelle mir vor, daß der Alte weggegangen ist und die Dorfpolizei anrückt. Unerlaubtes Eindringen in eine Kirche. Diebe. Ich tat etwas Verbotenes, übertrat das Gesetz. Der Alte hatte gesagt, sie sei geschlossen, die Besichtigungszeit vorbei! Er war ein armer Alter, der uns nicht zurückhalten konnte, und die Polizei würde noch härter mit uns verfahren, weil wir einen Greis respektlos behandelt hatten.
Ich bleibe nur so lange drinnen, wie es nötig ist, um den Eindruck zu erwecken, daß ich mich nicht unbehaglich fühle.
Mein Herz schlägt noch immer so heftig, daß ich fürchte, er könnte es hören.
»Wir können gehen«, sage ich, als ich so lange gewartet habe, wie ein Ave-Maria dauert.
»Hab keine Angst, Pilar. Du mußt hier nichts inszenieren.«
Ich wollte nicht, daß das Problem mit dem Alten zu einem Problem mit ihm wurde. Ich mußte Ruhe bewahren.
»Ich weiß nicht, was du mit ›inszenieren‹ meinst«, entgegne ich.
»Es gibt Leute, die sind mit jemandem im Streit, mit sich selbst im Streit, mit dem Leben im Streit. Sie fangen dann an, in ihrem Kopf eine Art Theaterstück zu inszenieren, dessen Handlung ihren Frustrationen entspricht.«
»Ich kenne viele Leute, die das tun. Ich weiß, wovon du redest.«
»Das Schlimmste ist jedoch, daß sie dieses Theaterstück nicht allein aufführen können«, fuhr er fort. »Und dann holen sie sich Mitspieler heran. Genau das hat der Alte getan. Vielleicht wollte er sich für etwas rächen und hat nun uns als Sündenböcke ausgesucht. Wären wir auf sein Verbot eingegangen, würden wir es jetzt bereuen und uns besiegt vorkommen. Wir hätten uns dann nur darauf eingelassen, Teil seines kleinlichen Lebens und seiner Frustrationen zu sein. Der Mann steckte voller Aggressionen, das war nicht zu übersehen, und es war einfach für uns, sein Spiel nicht mitzumachen. Andere Menschen hingegen führen sich als Opfer auf, beklagen sich über die Ungerechtigkeit des Lebens, bitten, ihnen zuzustimmen, ihnen Ratschläge zu geben, und fordern uns so auf, in ihrem Stück mitzuspielen.«
Er blickte mir in die Augen.
»Vorsicht«, sagte er. »Wenn man sich auf dieses Spiel einläßt, ist man am Ende immer der Verlierer.«
Er hatte recht. Dennoch fühlte ich mich da drinnen nicht ganz wohl in meiner Haut.
»Ich habe schon gebetet. Was ich wollte, ist getan. Wir können hinausgehen.«
Wir traten ins Freie. Nach der Dunkelheit in der Kapelle blendete mich das gleißende Sonnenlicht. Als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich, daß der Alte nicht mehr da war.
»Laß uns zu Mittag essen«, sagte er und schlug den Weg zur Ortschaft ein.
Ich trinke zwei Glas Wein zum Mittagessen. So viel habe ich nie in meinem Leben getrunken. Ich werde noch zur Alkoholikerin.
»Du übertreibst.«
Er redet mit dem Kellner. Erfährt, daß es ein paar römische Ruinen in der Gegend gibt. Ich versuche, dem Gespräch zu folgen, doch es gelingt mir nicht, meine schlechte Laune zu unterdrücken.
Die Prinzessin hat sich in eine Kröte verwandelt. Sei’s drum! Ich mußte niemandem etwas beweisen, denn ich war auf nichts aus, weder auf einen Mann noch auf eine Liebe!
›Ich hab’s ja gewußt‹, denke ich, ›daß er meine Welt aus dem Gleichgewicht bringen würde. Mein Kopf hat mich schon gewarnt, aber das Herz wollte nicht hören.‹
Ich habe einen hohen Preis für das zahlen müssen, was ich habe. Mußte auf vieles verzichten, was ich mir wünschte; habe viele Wege nicht eingeschlagen, die sich mir auftaten; habe meine Träume im Namen eines größeren Traumes geopfert: für meinen inneren Frieden. Den will ich nicht wieder verlieren.
»Du bist angespannt«, sagt er, die Unterhaltung mit dem Kellner unterbrechend. »Ja, das bin ich. Ich glaube, der Alte hat die Polizei gerufen.
Diese Stadt ist klein, ich glaube, sie werden bereits wissen, wo wir zu finden sind. Warum mußtest du ausgerechnet hier zu Mittag essen, das könnte das Ende unserer Feiertage bedeuten.«
Er dreht ständig ein Glas mit Mineralwasser in seiner Hand.
Wahrscheinlich weiß er, daß es das nicht ist, daß ich mich in Wahrheit schäme. Warum machen wir dies nur mit unserem Leben? Warum sehen wir nur das Staubkorn in unserem Auge und nicht die Berge, die Felder, die Olivenbäume?
»Hör zu: Nichts dergleichen wird geschehen«, sagt er. »Der Alte ist längst zu Hause angekommen und erinnert sich überhaupt nicht mehr an diesen Zwischenfall. Glaub mir.«
›Deswegen bin ich doch gar nicht angespannt, du Dummkopf‹, denke ich.
»Hör mehr auf dein Herz«, fährt er fort.
»Genau das tue ich doch: Ich höre darauf«, entgegne ich. »Ich möchte hier weg. Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut.«
»Trink tagsüber nicht so viel. Das bringt nichts.«
Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich im Griff. Jetzt sollte ich ihm besser sagen, was ich auf dem Herzen habe.
»Du glaubst, du weißt alles«, sage ich. »Verstehst was von magischen Augenblicken, vom inneren Kind. Ich weiß überhaupt nicht, warum du mit mir hier sitzt!«
Er lacht.
»Ich bewundere dich«, sagt er. »Ich bewundere den Kampf, den dein Verstand gegen dein Herz führt.«
»Was für einen Kampf?«
»Ach nichts«, antwortet er.
Doch ich weiß, was er meint.
»Mach dir nichts vor«, antworte ich. »Wenn du willst, reden wir darüber. Du irrst dich in bezug auf meine Gefühle.«
Er hört damit auf, das Glas in seiner Hand zu drehen, und sieht mich an: »Das tue ich nicht. Ich weiß, daß du mich nicht liebst.«
Jetzt bin ich noch verwirrter.
»Doch ich werde darum kämpfen«, fährt er fort, »es gibt Dinge im Leben, für die zu kämpfen sich bis zum Schluß lohnt.«
Seine Worte machen mich sprachlos.