Der Hirte kam, und Grikor übergab ihm die Kälber. Asmik lief noch schnell zu ihrer Mutter, um ihr die Küken anzuvertrauen. Die Kolchosverwaltung hatte Anaid bereits im Frühjahr die Aufsicht über das Geflügel übertragen, und seitdem wurde sie als ,Mitarbeiterin an der Versuchsfarm für Geflügelzucht' bezahlt.
»Was müssen wir mitnehmen? Schaufeln? Stricke?« fragte Kamo.
»Vor allem was zu essen!« warf Grikor ein und lief hastig nach Hause.
»Bring aus dem Kolchos ein paar Stricke mit, aber möglichst starke!« rief ihm Kamo nach.
»Bei dieser Gelegenheit müssen wir die Berghöhlen genau untersuchen. Ach, wenn wir außer dem Honig doch auch Wasser finden würden«, sagte Armjon nachdenklich. Alle seine Gedanken galten der Wassernot.
»Wasser? Wasser — das ist ein Traum. Unsere Großväter sind mit dem Wort ,Wasser' auf den Lippen gestorben. Wasser finden! Das ist leicht gesagt. Geht doch hin und findet es! « sagte der Großvater mit hoffnungsloser Stimme.
»Wenn wir nun in dem Berg bei unserm Dorf nach Wasser bohrten, wer weiß, ob wir keine Quellen fänden. Es müssen welche da sein, die den Gilli-See versorgen«, sagte Armjon. »Was meinst du dazu, Großväterchen?«
»Ja, hätten wir denn nicht längst eine Leitung angelegt, wenn das möglich wäre?« brummte der Großvater. »Haben wir nicht auch ohne Bohrmaschinen alles versucht? Du hast schon recht. Ich bin nicht so dumm. Die Hauptsache ist — man muß die Wasserader finden und sie abfangen... Es ist aber keine da! «
»Immer heißt es: ,Keine da, keine da!' Wenn wir sie nicht finden, dann werden die Geologen, die aus Jerewan kommen sollen, es tun.«
Während sie auf Grikor warteten, fingen Kamo und Armjon wieder an, sich wegen des Wassermangels zu streiten. Großvater Assatur hörte ihnen schweigend zu und schüttelte nur zuweilen zweifelnd den Kopf. Endlich tauchte Grikor mit einer Spitzhacke und einem vollgestopften Rucksack auf. Die Freunde liefen ihm entgegen.
»Und die Stricke?«
»Wer wird mir im Kolchos Stricke geben? Nur geschimpft haben sie. Aber das Wichtigste habe ich mitgebracht — jetzt werden wir den Tschantschakar bezwingen. Seht her!« Und Grikor nahm den schweren Rucksack mit Eßvorräten von seiner Schulter. »Ich bin bei euren Müttern gewesen, und jede hat mir etwas Leckeres eingepackt.«
»Bravo!« lachte Asmik. »Das hast du wirklich gut gemacht. Alle Achtung.«
»Und wozu hast du die Spitzhacke mitgebracht?« erkundigte sich der Großvater.
»Forscher gehen nie ohne Spitzhacke in die Berge«, ent-gegnete Grikor gewichtig.
»Wenn du meinst«, sagte Kamo. »Doch jetzt kommt, wir wollen gehen.«
So begann die Suche nach den wilden Bienen, ihr erster Aufstieg auf die Höhen des Dali-Dagh und des Tschantschakar, die von tiefen Schluchten zerklüftet sind.
Das ,Blut der sieben Brüder'
Der üppige Blumenteppich, der die Abhänge des Dali-Dagh bedeckte, leuchtete in hellen Farben den Kindern entgegen.
Sie blieben stehen und betrachteten voller Entzücken den Bergmohn, der sich scharlachrot von dem Grün der Wiesen abhob. Gelbe Narzissen mit langen Blütenwimpern senkten ihre Köpfchen wie schüchterne Mägdelein, als trauten sie sich nicht, die Augen zu den fremden Wanderern aufzuheben. Grellgelbe Blümchen verbreiteten einen betäubenden Duft; in den Bergen wurden sie deshalb auch ,Weihrauchblümchen' genannt. Neben ihnen glänzten Butterblumen, als seien ihre Blüten in Fett getaucht. Abergläubische Frauen tun sie beim Buttern in die Sahne — weshalb, wissen sie selbst nicht. Zierliche Adonisröschen und blaue Glockenblümchen lugten bescheiden aus dem Grase her-vor. Überall wucherte weiße Kamille.
Die heiße Sonne des Südens hatte alle diese Blumen nicht nur mit betäubendem Duft, sondern auch mit mannigfachen Heilkräften ausgestattet.
»Seht ihr diese einfachen Blättchen?« fragte der Großvater. »Man nennt sie bei uns „Ochsenzungen'. Jede Wunde, auf die man sie legt — heilt in kürzester Zeit. Ich habe das selber erlebt. Ich bin mal von einem Felsen gestürzt und hatte mich an der Hand verletzt. Nachdem Großmutter Nargis diese Blättchen aufgelegt hatte, heilte die Wunde schnell. Legt man die Blättchen auf ein Geschwür, so ziehen sie den Eiter heraus. Als Tee aufgebrüht, lindern sie die Atemnot der Kranken. Ja, so reich ist die Natur.«
Die Blüten der ,Kantaphe' — wie sie in Armenien heißen — ragen hoch über alle anderen Gewächse empor. Sie wiegen sich sanft auf ihren langen Stengeln. Hier im Gebirge werden sie getrocknet und als Heilmittel aufbewahrt.
»Diese Blumen haben schon vielen Menschen das Leben gerettet!« begann der Großvater von neuem. »Einmal hatte der Jäger Karo in den Bergen im Schnee übernachtet. Er wollte einen erlegten Hirsch nicht liegenlassen. Dabei sind ihm die Lungen erfroren. Und wären nicht diese Blumen gewesen -er wäre sicher gestorben.«
»Wie haben ihm denn die Blumen geholfen?« fragte Asmik.
»Ganz einfach: man kochte einen Tee daraus, den man dem Kranken heiß zu trinken gab. Er hat tüchtig geschwitzt und war gerettet. «
»Wie schön ist es hier!« rief Asmik. »Kommt, wir wollen unsere Schuhe ausziehen und barfuß umherlaufen!«
Rasch entledigte sie sich ihrer Schuhe, hängte sie an den Schuhbändern über die Schulter und flatterte leichtfüßig, wie ein Falter, über die grüne Bergwiese. Die Knaben folgten ihrem Beispiel.
Plötzlich blieb Asmik stehen. Ein besonders hübsches purpurrotes Blümchen hatte ihre Aufmerksamkeit angezogen.
»Ist das nicht die Blume, die das ,Blut der sieben Brüder' genannt wird, Großväterchen?« fragte Kamo und lief hin, um sie zu betrachten.
Auch Armjon kam angelaufen.
Kamo hatte sich bereits gebückt, um sie zu pflücken, hielt aber inne, als er Asmiks flehenden Blick sah.
»Laß sie mir, laß sie mir! Ich will sie ausgraben.«
Asmik grub das Blümchen behutsam mitsamt der Wurzel aus.
»Ich werde es zu Hause in einen Topf pflanzen«, sagte sie. »Wie hübsch es aussieht! Ist es denn wahr, Großväterchen, daß es das Blut von sieben Brüdern ist?«
»Was denn sonst?« erwiderte der Alte mit wichtiger Miene. »Natürlich, von sieben tapferen Helden. Dieses Blümchen kommt nur bei uns in den Bergen vor, und auch da nur sehr selten. Schon sechzig Jahre streife ich über unsere Berge, habe es aber nur zweimal gefunden. Einmal — als ich noch jung war. Damals hatte ich gerade Nargis, meine Alte, kennengelernt. Ich brachte es ihr... Das andere Mal war's im japanischen Krieg. Wann?... Das weiß ich nicht mehr. Doch im Zimmer hält sich dieses Blümchen nicht, mein Töchterchen. Man sagt, in fremder Erde stirbt es.«
Es war wirklich eine wunderhübsche Blüte! Welcher Künstler hätte es wohl fertiggebracht, auf der Leinwand die zarten, verschiedenartigen, ineinanderlaufenden Farbtöne wiederzugeben?
Asmik sog den Duft des Blümchens ein und drückte es zärtlich an ihre Wange.
»Großväterchen, weißt du Geschichten von diesem Blümchen?« fragte sie. »Erzähle sie uns bitte.«
»Warum nicht, Töchterchen? Setzt euch her und hört zu.«
Der Großvater setzte sich auf einen Stein und stopfte sich umständlich seine Pfeife. Die Kinder ließen sich im Kreise um ihn nieder und sahen ihn stumm und erwartungsvoll an.
Großvater begann:
»Es heißt, daß vor langer, langer Zeit in unseren Bergen Menschen gelebt haben, die Kurden genannt wurden. Es waren verschiedene Stämme, und diese Stämme lebten in Feindschaft untereinander. Zu einem dieser Stämme gehörten nun sieben Brüder, sieben verwegene Dshigite - das sind kaukasische Kunstreiter. Sie waren sozusagen auf dem Rücken ihrer Pferde groß geworden. Alle sieben waren tapfer, ansehnlich und gewandt. Diese Brüder hatten eine Schwester, die Sare hieß. Sie war so lieblich, daß die Sonne zu ihr sagte: ,Warum soll ich aufgehen, da du den Menschen an meiner Stelle Licht und Wärme gibst? ' Und der Mond war so verwirrt von ihrer Schönheit, daß er gar nicht erst vorkam, sondern sich hinter den Wolken verbarg. Sares Wangen waren wie Milch und Blut. In ihren Augen lagen Güte, Liebe und Wärme. Die zierlichen Augenbrauen waren schön geschwungen wie Schwalbenflügel. Und schlank war sie wie eine Gerte. . . «