Der Großvater sog sinnend an seiner Pfeife und stieß ein paar dicke Rauchwolken aus. Einige Augenblicke saß er so da. Dann fuhr er fort:
»Sie wuchs sorglos auf wie eine Gazelle, wie ein Schmetterling zwischen Blumen... Den Nachbarstamm regierte Awdal-Beg. Er war ein blutgieriger Mann. Mehr als einmal hat er den Stamm der sieben Brüder überfallen und fast zugrunde gerichtet. Wieder einmal schickte er seine Bauftragten zu den Brüdern und ließ ihnen sagen, daß er ihnen die Hälfte aller seiner Weiden, Herden und Pferde überlassen wolle, wenn sie ihm ihre Schwester zur Frau geben würden. Er versprach ihnen für ewige Zeiten seine Freundschaft. Da überlegten die Brüder, was zu tun sei. Der ganze Stamm kam zusammen. Sie beratschlagten hin und her und beschlossen, das Mädchen Sare dem Awdal-Beg zur Frau zu geben. Er besaß große Macht und konnte, wenn sie ablehnten, viel Unheil anrichten... Als Sare davon erfuhr, sagte sie: ,Ich werde zu Awdal-Beg gehen, doch ich gehe wie ein Opfertier, denn ich liebe diesen Mann nicht; ich kann den nicht lieben, um dessentwillen mein Stamm schon so viel Blut vergossen hat. Doch ich werde zu ihm gehen, wenn meine Brüder es wollen und wenn es für das Wohl meines Stammes notwendig ist.'
Als der jüngste Bruder, der der hitzigste der sieben war, dies hörte, zog er seine Klinge, schlug mit ihr gegen den Felsen, daß es klirrte, und rief: ,Ich werde nicht zulassen, daß meine Schwester geopfert wird. Ich habe nur diese eine Schwester, und sie soll ich unserem Feinde in die Hände geben?' Der älteste Bruder war andersgeartet; er war nicht so hitzig, erkannte die Gefahr und mahnte zur Vorsicht. Es gelang ihm indes nicht, den jüngsten Bruder, auf dessen Seite alle anderen waren, umzustimmen. So wurde beschlossen, die Schwester nicht an Awdal-Beg auszuliefern. ,Nun gut', rief Awdal-Beg als er davon hörte, ,steht es so, dann will ich sie mir mit Gewalt nehmen.' Er kam angeritten, stieg von seinem Pferde und forderte alle sieben Brüder zum Zweikampf auf. Es sollte folgender-maßen vor sich gehen: Der älteste Bruder sollte sich zuerst zum Kampfe stellen, doch er zögerte. Er war ein reifer, besonnener Mann und hatte überdies eine große Familie. Er wollte nicht in den sicheren Tod gehen, denn er und seine Brüder befanden sich auf freiem Feld, während Awdal-Beg im Schutze der Felsen Aufstellung genommen hatte. Als Sare das Zögern des ältesten Bruders bemerkte, griff sie selber nach Pfeil und Bogen, stellte sich Awdal-Beg gegenüber und begann zu singen. «
Großvater Assatur wiederholte mit seiner zittrigen Greisen-stimme das Liedchen in kurdischer Sprache, wie es die schöne junge Sare ihrem ältesten Bruder als Anklage entgegengeschleudert hatte, weil er nicht kämpfen wollte.
»Ihr konntet die Worte des Liedes natürlich nicht verstehen«, sagte der Großvater. »Der Sinn ist etwa der: ,Wenn mein ältester Bruder sich weigert, zu kämpfen, so will ich selber Blut und Leben wagen, um meine Ehre zu verteidigen.' Als der älteste Bruder diesen bitteren Vorwurf hörte, riß er die Pelzmütze vom Kopfe, nahm den Bogen von der Schulter und schritt auf den Gegner zu. Der Zweikampf begann. Awdal-Beg aber tötete ihn. Sare sah das voller Verzweiflung, raufte sich die Haare und begann wieder zu singen. In diesem Liede rühmte sie die Treue und Tapferkeit des gefallenen Bruders.«
Auch dieses kurdische Liedchen, eine schwermütige Weise. sang der Großvater den Kindern mit leier Stimme vor.
»So hat sie gesungen«, fuhr der Großvater in seiner Erzählung fort, »dann hob sie Pfeil und Bogen des toten Bruders auf und wollte selber gegen Awdal-Beg kämpfen. Doch da warf sich der zweite Bruder dazwischen, küßte seine Schwester, drängte sie zur Seite und rief dem Gegner zu:
,Schändlicher, wir wollen lieber unser Blut vergießen, ehe wir zulassen, daß unsere Schwester dir geopfert wird.' Auch er entblößte sein Haupt, spannte den Bogen und wollte den tödlichen Pfeil abschießen, doch Awdal-Beg war schneller als er. Er war ein guter Schütze, der den Vogel im Fluge traf. Der Pfeil schwirrte durch die Luft; und auch der zweite Bruder stürzte tödlich getroffen zu Boden. Wieder raufte sich Sare verzweiflungsvoll die Haare, und wieder begann sie zu singen.«
Nachdem der Großvater den Kindern auch dieses Liedchen vorgesungen hatte, setzte er seine Erzählung fort:
»Einer nach dem andern sind die Brüder zum Kampf gegen Awdal-Beg angetreten, einer nach dem andern sind sie gefallen, und den Tod eines jeden begleitete Sare mit einem Klagelied. Sie pries darin den Mut und die Tapferkeit des einen Bruders, die Zärtlichkeit des zweiten, die Schönheit und Stattlichkeit des dritten, das gute Herz des vierten. . . «
Stets sang der Großvater das kurdische Liedchen den Kindern mit bebender Stimme vor. Asmik war so ergriffen, daß sie leise vor sich hin weinte.
»Als auch der letzte, jüngste Bruder getötet war«, nahm der Großvater seine Erzählung wieder auf, »sang Sare ihr letztes Lied. Doch es war kein Klagelied. Es war ein zorniges Lied, das Rache forderte.«
Der Großvater sah plötzlich ganz verjüngt aus; er richtete sich auf, seine Stimme nahm einen entschlossenen Ton an, seine Augen sprühten, und die Hand umklammerte den Griff seines Dolches. Dann fuhr er in seiner Erzählung fort:
»Als Sare den Gesang beendet hatte, nahm sie Bogen und Pfeile der Brüder, setzte die Kappe des jüngsten Bruders, die mit einem Seidenband geschmückt war, auf und trat vor...
Wie schön war sie in diesem Augenblick, wie stolz und wie zornig! Awdal-Beg wich zurück und verbarg sich hinter dem Felsen, doch Sares scharfes Auge hatte ihn rasch entdeckt. Ihr Pfeil schwirrte durch die Luft und erreichte sein Ziel... Tödlich getroffen stürzte Awdal-Beg zu Boden.«
Und mit leiser Stimme setzte der Alte hinzu: »Das Blut von sieben Brüdern netzte die Erde, und aus der Erde sproß ein Blümchen — rot wie Blut.«
Nachdem Großvater Assatur seine Erzählung beendet hatte, nahm er wieder seine alte Pfeife in den Mund, zündete sie an und verharrte, in Gedanken versunken und in Rauchwolken eingehüllt, lange Zeit schweigsam. Auch die Kinder waren still geworden.
Asmik wischte sich eine verstohlene Träne aus den Augen, dann stand sie auf und ging zu Kamo.
»Komm, ich will dir dieses Blümchen an die Brust stecken«, sagte sie. »Ich glaube, daß auch du, wie so ein tapferer Dshigit, deine Schwester verteidigen würdest.«
»Ich hab' keine Schwester«, erwiderte Kamo. »Sollte dich aber jemand kränken wollen, Asmik, ich würde dich bestimmt beschützen! «
Grikor versuchte die trübe Stimmung mit einem Scherz zu vertreiben:
»Nicht einmal eine Schwester hat dieser Mensch«, rief er, »für die er kämpfen könnte.« Aber auch in Grikors Augen standen Tränen. Großvaters Märchen hatte den Kindern gut gefallen.
Bald darauf sprangen sie auf und liefen auf der Wiese umher, um Blumen zu pflücken. Doch dann setzten sie ihren Weg zum Fuße des Tschantschakar fort. Dabei wurde gescherzt und gelacht, und keiner wurde müde, neue Späße zu ersinnen.
Großvater Assatur hörte den Kindern zu. Er mußte an seine eigene Jugend zurückdenken, die schon so fern lag. Fröhlich umjubelten ihn die Kinder — wie bunte Schmetterlinge, die von Blume zu Blume flattern, dachte der Großvater.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und das laute Summen der Bienen und das Zirpen vieler Insekten erfüllte die Luft. Betäubender Duft entströmte den Blüten. Müde und verträumt schritten die Kinder dahin. Vom fernen Gilli-See her war zuweilen das unheimliche Brüllen des ,Wassermanns' zu hören. Dann wurden die lachenden Gesichter der Kinder ernst und nachdenklich.