Die Knaben lächelten über die einfältige Geschichte des Großvaters, aber Asmik flüsterte ganz aufgeregt:
»Wie mutig und gut war Schuschan.«
»Nein, Großväterchen, eine Hölle gibt's nicht. Da hast du dir einen schönen Bären aufbinden lassen!« sagte Armjon und schüttelte den Kopf. »Ich denke mir, der Krug ist auf irgend-eine andere Weise auf den Baum geraten. Wie alt mag denn diese Eiche sein? Vielleicht zweihundertundfünfzig Jahre. Vor zweieinhalb Jahrhunderten zogen die Türken durch unser Land. Sie plünderten und brannten die Dörfer nieder, und die Bewohner flohen, von Angst und Schrecken getrieben, in die Berge. Damals war dieser Baum so alt, wie Asmik jetzt ist... Die Flüchtlinge wurden beim Besteigen der Berge müde und ließen nach und nach vieles von ihrer Habe zurück. So wird auch dieser Krug von irgendeinem alten Mütterchen zurückgelassen worden sein. Sie hängte ihn an einem jungen Baum auf und dachte vielleicht, daß sie bald zurückkommen und ihn dann wieder mitnehmen würde. Doch dann kam sehr lange Zeit kein Mensch mehr des Weges. Der Baum wuchs, und mit ihm wurde der Krug immer höher emporgehoben. Und als wieder Menschen vorüberkamen und ihn sahen, da war er schon uralt und grün und nicht mehr zu gebrauchen. Die Eiche war gewachsen und so hoch und so mächtig geworden, wie wir sie jetzt vor uns sehen.«
»Ja, so muß es gewesen sein«, rief Asmik und klatschte fröhlich in die Hände. Sie war erleichtert, daß der Krug nichts mit Geistern zu tun hatte. Grikor allerdings meinte schalkhaft:
»Wie kannst du die Geister beleidigen. Hörst du denn nicht, wie böse sie geworden sind?« Er wies zum Himmel. Hinter dem Felsen zuckte ein greller Blitz herab; gleichzeitig ließ ein heftiger Donnerschlag die Luft erzittern.
Wie so häufig im Gebirge, hatte sich der strahlende Himmel plötzlich verfinstert. Schwarze Wolken ballten sich zusammen. Das Echo des Donners hallte zehnfach aus den Schluchten wider.
Asmik zuckte ängstlich zusammen und schmiegte sich dicht an Kamo.
»Weshalb erschrickst du denn? Etwa über den Donner? Hast du vergessen, was du in der Schule gelernt hast?...«
Unter den schwarzen Felsenklippen
Die Kinder krochen unter dem Felsvorsprung hervor, unter dem sie während des Gewitters Schutz gesucht hatten.
Alles ringsum war wieder friedlich und still; der Himmel hatte sich aufgeklärt, und die Sonne strahlte.
In Richtung der Schlucht bildeten die Felsen eine Art vorspringendes Gesims, das sich längs der Felswand hinzog und aus der Ferne an die Stirnfalten eines Greises erinnerte.
Kamo zeigte auf einen dieser Felsvorsprünge und fragte den Großvater:
»Großväterchen, siehst du den Steinpfad da oben? Wohin mag der führen?«
»Dieser Pfad endet in der Mitte der Felsen. Darüber ist noch ein anderer, von dem aus kann man die Höhle des bösen Geistes sehen.«
»Dahin wollen wir, los, Freunde«, rief Kamo energisch und begann, leichtfüßig wie eine Gemse, den vom Großvater be-zeichneten Pfad hinaufzuklettern.
Grikor und Asmik folgten ihm auf den Fersen. Armjon bildete den Schluß des kleinen Zuges.
Der Großvater aber rief ihnen entsetzt nach:
»Laßt das bleiben, Kinderchen. Ihr lauft ja dem Teufel direkt in die Arme. Was soll ich euren Eltern sagen?« Ganz außer sich griff er nach seinem Dolch, um sie irgendwie zurückzuhalten.
»Großväterchen, du hast ja die Grenze schon überschritten«, rief Grikor und schlug mit geheucheltem Schrecken die Hände über dem Kopf zusammen.
Alle mußten lachen.
Großvater Assatur aber kehrte schnurstracks zu dem Eichbaum zurück. Sein Gesicht war kreidebleich geworden. Er brachte gerade noch die Kraft auf, den Kindern mit vor Aufregung zitternden Lippen nachzurufen:
»Seht bloß nicht nach unten, damit ihr nicht schwindlig werdet! Seht nicht nach unten, Kinder!«
Die Kinder sahen ohnehin nicht nach unten. Sie drängten sich im Vorwärtsgehen dicht an die Felswand zur Linken. Dabei entdeckten sie allerlei Einbuchtungen und Einschnitte, die den wilden Ziegen und Gemsen wohl als Unterschlupf dienen mochten.
Kamo ging sicher, mit festen Schritten voran und ermutigte die Kameraden durch sein tapferes Verhalten. Armjon, der immer etwas ängstlich war und daher nur ungern an diesem Unternehmen teilgenommen hatte, folgte als letzter. Grikor und Asmik gingen dicht vor ihm her. Grikor hätte wahrscheinlich wie immer Späße gemacht, aber auch ihm war ein wenig bange zumute: wie leicht konnte ihm sein lahmes Bein zum Verhängnis werden! Einmal stolperte er und wäre beinahe in den Abgrund gestürzt. Nur mit Mühe konnte er sich noch rechtzeitig an einem Felsvorsprung festklammern.
Asmik war erschrocken zusammengefahren:
»Mir ist beinahe das Herz stehengeblieben!«
»Mein dummes Bein ist schuld«, rechtfertigte sich Grikor ärgerlich.
»Geh vorsichtiger!« flehte ihn Asmik an, »sonst muß ich dich wie ein kleines Kind an der Hand führen.«
Je weiter sie kamen, desto enger wurde die Schlucht zwischen den beiden Bergwänden. Die Schwarzen Felsen und die Felsenklippen des Tschantschakar kamen einander immer näher, um schließlich fast zu einem Massiv miteinander zu verschmelzen. Beide Felswände - die eine schwarz, die andere rot - fielen nahezu senkrecht ab. Ein tiefer Abgrund gähnte zwischen ihnen. - Plötzlich war der Pfad zu Ende, und ein Felsen versperrte den Weg.
Die Kinder blieben stehen und lauschten.
Aus der Tiefe, von den Schwarzen Felsen her, drangen merkwürdige Töne zu ihnen herauf, die in der Tat einem dumpfen Stöhnen glichen. Das Gestein unter ihnen schien zuweilen zu beben; es klang so, als arbeite sehr tief im Innern des Felsens eine gewaltige Maschine.
Die Höhle, die seit alten Zeiten als ,Höllenpforte' galt, befand sich auf der anderen Seite des Felsens und war von hier aus nicht zu sehen.
Dicht an das Gestein gedrängt, blickten die Kinder neugierig zu den Abhängen des Tschantschakar hinüber.
Dort schien es mehrere Höhlen zu geben, große und kleine. Die Schlucht, die die beiden Bergmassive voneinander trennte, war so schmal, daß die Höhlen auf der anderen Seite gut zu erkennen waren: die Kinder sahen wie durch die weitgeöffneten Fenster vom obersten Stockwerk eines hohen Hauses auf ein ebenso hohes Haus jenseits einer schmalen Straße.
Plötzlich stieß Kamo einen erstaunten Ruf aus.
Die andern folgten seinem Blick.
In einer der gegenüberliegenden Höhlen konnten sie im Dämmerlicht die Umrisse von irgendwelchen ovalen Gegenständen erkennen.
»Was kann das sein?« fragte Kamo ganz aufgeregt.
»Bienen sind das, Kamo, Bienen!« schrie Armjon. »Sieh nur, wie viele Bienen!«
»Wo denn?«
»Sieh doch hin! Sie fliegen in die runden Dinger hinein und wieder heraus, als wären das Bienenkörbe.«
Beim näheren Hinschauen erkannten die Kinder, daß tatsächlich unzählige wilde Bienen dort aus und ein schwirrten und die rötliche Felswand des Tschantschakar mit lautem Gesumm umschwärmten.
»Was für Unmassen von Honig müssen da drin sein«, rief Grikor, der gleich ans Schlecken dachte. »Jetzt müßt' ich eine lange Stange haben, ungefähr zwanzig Meter lang, dann würde ich einen Lappen um das Ende wickeln und damit rüberangeln, bis ich die Bienenkörbe erreicht hätte. Was meint ihr wohl, wieviel Honig wir uns da herüberholen könnten?... Guckt doch nur... da muß auch die Schaufel des Jägers Karo sein! Jede Felsspalte trieft von Honig. Wenn ich nicht Angst hätte, abzustürzen, würde ich jetzt vor Freude tanzen.«
»Freue dich nur nicht zu sehr«, meinte Asmik besorgt, »sonst stürzt du am Ende wirklich hinunter.«
Als die Kinder die Felsen noch weiter mit ihren Blicken absuchten, entdeckten sie eine andere Höhle, in deren Eingang sich ebenfalls irgendwelche Gegenstände abzeichneten. Aus der Höhle ragte ein Balken heraus, und ein wenig weiter drinnen schien so etwas wie ein großer Kessel zu stehen.