In Dunst eingehüllt, gleichsam mit einem weißen Turban gekrönt, verlor sich der Gipfel des Großen Ararat in den Wolken. Von seinem Haupte leuchteten die ewigen Schneefelder. Ähnlich einem Zuckerhut ragte neben dem Großen der Kleine Ararat empor.
Kamo, der seinen Platz neben dem Fahrer eingenommen und sich mit ihm angefreundet hatte, bat plötzlich:
»Ach bitte, warten Sie ein wenig ', ich möchte mich so gerne umschauen. «
Er wandte seinen Blick von den schneeigen Berggipfeln hinab in die Ebene. In zarten violetten Dunst gebettet, lagen, zwischen dem Grün der Felder verstreut, zahlreiche Siedlungen. Schlank reckten sich die Schornsteine der neu errichteten Fabriken gen Himmel.
»Wie heiß ist es um diese Jahreszeit in der AraratEbene?« wollte einer der Mitreisenden wissen.
»Sehr heiß«, meinte ein anderer. »Darum haben auch die Früchte sonst nirgends ein solches Aroma und solch süßen Saft wie die der Ararat-Ebene.«
In diesem Augenblick erregte eine neues, Kamo noch völlig unbekanntes Bild seine Aufmerksamkeit.
Zwischen den steinigen Abhängen längs der Chaussee schoß ein breiter Fluß herab und ergoß sich ungestüm in sein neues, frisch auszementiertes Bett. Sprudelnd und schäumend strömte das Wasser darin der Ararat-Ebene zu.
»Nanu, hier war doch sonst kein Fluß. . .«, staunte Kamo.
»Das ist die Sanga. Man hat sie durch unterirdische Kanäle hierhergeleitet«, antwortete der Fahrer so stolz, als sei er selbst am Bau dieser Kanäle beteiligt gewesen.
Der Autobus fuhr jetzt bergab, der breiten Ebene zu. Jerewan war zwar noch nicht zu sehen, doch man spürte bereits den Atem der Stadt. Allmählich tauchten in der Ferne die Schornsteine neuer Fabriken auf. Über ihnen kräuselten sich weiße Rauchwölkchen und verloren sich in den Bergen.
Auf einer Anhöhe, nicht weit von Kanakir, wurde mit Hilfe gewaltiger Maschinen Wasser geschöpft, das sich dann als weißer Gischt in die Tiefe stürzte.
»Was ist das? Diese Anlage habe ich früher nie gesehen.«
»Die gibt es auch noch nicht lange. Es ist ein Wasserhebe-werk«, erklärte einer der Mitreisenden. »Das Wasser wird mit elektrischen Pumpen aus der SangaSchlucht heraufgepumpt und dann durch Kanäle zur Bewässerung neuangelegter Wein-berge weitergeleitet.«
Kamo konnte sich vor Staunen gar nicht fassen. Vor kurzem war hier eine Wüste, dachte er. Sein Erstaunen wuchs aber noch, als sich der Autobus der Stadt näherte. Auf den ehemals ausgedörrten, steinigen Anhöhen, die Jerewan umgaben und auf denen es früher von Schlangen und Skorpionen gewimmelt hatte, erhoben sich jetzt die riesigen Bauten neuer Fabrikanlagen. Zur Linken breitete sich eine weiß schimmernde Siedlung aus. In den Gärten rings um die kleinen Häuser sprudelte überall das belebende Wasser des Sangaflusses.
Noch eine Biegung, und nun zeigte sich den Blicken der Reisenden die Stadt Jerewan. In das Grün der Gärten gebettet und an drei Seiten von Anhöhen umgeben, lag die Stadt in einer Bucht der weiten Ararat-Ebene vor ihnen.
Kamos Herz schlug laut und schnell vor Freude und Erregung. Er war in Jerewan geboren. Hier hatte er als kleiner Junge gespielt...
Der Autobus hielt. Kamo stieg aus, bedankte sich bei dem Fahrer und bog in einen Weg ein, der zwischen Gärten hindurchführte. Links und rechts leuchteten hinter den Zäunen im grünen Laub die reifenden Aprikosen. Sie hatten sich förmlich mit Sonnenwärme vollgesogen.
Eine ältere Frau, die hinter einem Zaun stand, fragte Kamo: »Woher kommst du denn, mein Junge? Wo bist du zu Hause?«
»Ich wohne jetzt am Ufer des Sewan-Sees«, antwortete Kamo.
»Am Sewan? Nun, komm, hier hast du ein paar Aprikosen. Die gibt es dort nicht.« Und ohne auf Kamos Widerspruch zu achten, füllte ihm die freundliche Frau seine Mütze mit den köstlichen reifen Früchten.
Sie hatte recht, daheim, in der wasserarmen, waldlosen Gegend, gab es kein solches Obst. Nicht umsonst werden die Aprikosen vielfach als ,armenische Früchte' und die AraratEbene als ihre Heimat bezeichnet. In der ganzen Welt lassen sich keine anderen Aprikosen, weder im Aroma noch im Aussehen, mit den Aprikosen Jerewans vergleichen ...
Ungeduldig, noch mehr zu sehen, ging Kamo weiter.
Wie groß war seine Heimatstadt geworden! Sie kam ihm auch viel schöner vor.
Da, wo sich früher ein altes Gäßchen mit Lehmbauten hingezogen hatte, erstreckte sich jetzt die schöne Stalinallee. Zu beiden Seiten standen große, prächtige Häuser aus schwarzem, rotem, rosa und hellgelbem Tuffstein.
Die Stadt Jerewan ist auf den Ablagerungen vulkanischer Lava gebaut. Die Bodenschätze sind fast unerschöpflich. Vor vielen Jahrtausenden hatte sich die Lava über diese Landschaft ergossen, sie war versteinert und hatte im Laufe der Zeit den wertvollen, in verschiedenen Farben aufeinandergeschichteten Tuffstein gebildet. Die Bewohner Jerewans brauchten das Material zum Bau ihrer Häuser nicht von weit her heranzuholen.
Kamo konnte sich erinnern, wie er als kleiner Junge oft vor der Werkstatt eines Steinmetzen stehengeblieben war, um ihm bei der Arbeit zuzusehen.
Der Tuffstein ist, wenn er ausgegraben wird, weich wie Holz; er wird zersägt und abgeschliffen. Manchmal hatte Kamo Steine, so groß wie er selber war, aufgehoben, so leicht ist dieses Gestein.
»Sag, Väterchen«, hatte er einmal gefragt, »wie kommt es, daß man aus so weichen Steinen Häuser bauen kann? Werden sie nicht einstürzen?«
Der Alte hatte gelächelt.
»Weich ist der Tuff stein nur, wenn er eben erst aus der Erde gekommen ist. Mit den Jahren wird er hart, und die daraus gebauten Mauern sind sehr fest.«
Kamo sah sich weiter in der Stadt um.
Erstaunt stellte er fest, daß in den letzten Jahren in der Ararat-Ebene, unterhalb Jerewans, eine neue Industriestadt, aus dem Boden gewachsen war, mit langen Reihen gewaltiger Bauten und gut angelegten Arbeitersiedlungen, die sich bis zum Ufer der Sanga erstreckten. Er sah Elektrizitätswerke, die sich in Reih und Glied am Flußufer entlangzogen. In Kupferkabeln wurde die von der Wasserkraft des Sangaflusses erzeugte Energie den in der Ararat-Ebene errichteten Baum-wollfabriken, Konservenfabriken und Pumpstationen zugeleitet.
Das Wasser wird hier mit elektrischer Kraft aus dem Aiger-gjol-See auf die Anhöhen gehoben, und von dort stürzt es herab und ergießt sich in Kanäle, die die Baumwollplantagen und Weinberge bewässern.
Alle Werkstätten, Fabriken und Industrieanlagen der Ararat-Ebene werden durch die Sanga in Betrieb gesetzt. Die Kraft der Sanga aber ist die Kraft des Wassers, das sich im Laufe der Jahrhunderte im Sewan-See angesammelt hat.
In jerewan suchte Kamo als erstes die Redaktion der Pionierzeitung auf, denn er hatte Berichte für die Zeitung geschrieben.
Das junge Mädchen, bei dem sich Kamo erkundigte, ob der Redakteur zu sprechen sei, wies freundlich auf eine zum Nachbarzimmer führende Tür.
Hinter einem großen Schreibtisch saß, über eine Zeitung gebeugt, ein noch junger Mann. Es war der Redakteur.
Gerade läutete das Telefon. Der Redakteur nahm den Höre ab und sprach mit jemand. Als er Kamo bemerkte, wies e einladend auf einen Sessel.
Während der, Redakteur telefonierte, musterte ihn Kamo insgeheim. Die hohe Stirn, die schwarzen Haare, die dunkel braunen Augen und die selbstsichere Stimme gefielen ihm gut Nachdem der Redakteur den Hörer wieder aufgelegt hatte wandte er sich an Kamo.
»Guten Tag, mein Freund, willst du zu mir?«
»Ja, ich bin Ihr Korrespondent Kamo, aus dem Dorfe Litschk am Sewan.«
»Ah, aus Litschk! Ich kann mich erinnern...«
Der Redakteur sah Kamo freundlich an. Der schlanke .Junge mit dem frischen, sonnenverbrannten Gesicht machte einen guten Eindruck auf ihn.
»Ihr scheint mir ja tüchtige Kerle zu sein«, sagt er. »Übrigens, deine Berichte sind immer recht ordentlich geschrieben. Nun, wie steht es — bekommt ihr jetzt genügend Gerste für eure Geflügelfarm?«