Endlich hörte die Strickleiter auf zu zittern.
»Großväterchen, er ist schon unten!« schrie Kamo und neigte sich über den Abgrund.
Der Alte klammerte sich an die Felsen und sah ebenfalls vorsichtig nach unten. Aram Michailowitsch stand auf dem Felsplateau und war eben dabei, sich zum Schutz gegen Bienenstiche ein Netz über den Kopf zu stülpen.
Die Knaben hatten Mut gefaßt und waren entschlossen, dem Lehrer zu folgen. Aber wer kam nun zuerst an die Reihe?
Da trat Großvater Assatur vor, legte die Hand auf seinen Dolch und sprach:
»Meint ihr denn, der Enkel des Jägers Assatur werde zulassen, daß ein anderer sich vor ihm in Gefahr begibt?« Kamo lachte und umarmte den Alten.
»Heldenblut hat mein Großväterchen in seinen Adern!« sagte er scherzend. Dann trat er an die Leiter heran und stieg behende zur Felsenplattform hinab.
Als Asmik ihn unten stehen sah, klatschte sie vergnügt in die Hände und rief laut:
»Bravo, Kamo!«
Tschambar, der durch die sonderbaren Vorgänge ganz verstört war, lief unruhig hin und her, bellte laut und versuchte über den Felsrand hinunterzusehen, wohin wohl Aram Michailowitsch und Kamo verschwunden waren.
Asmik blickte fragend auf die Gefährten:
»Wer ist jetzt an der Reihe?«
Armjon, der es die ganze Zeit ängstlich vermieden hatte, in den Abgrund zu sehen, wandte sich nun entschlossen der Leiter zu. Aber Asmik griff nach seinem Arm und hielt auch Grikor zurück.
»Bleibe du hier bei Grikor«, sagte sie und blickte verstohlen auf dessen lahmes Bein. »Du könntest ausgleiten und stürzen. . .«, stotterte sie.
»Wie? Wegen des Beines?« fragte Grikor und zog die Brauen hoch. »Und wenn du noch so bittest, ich muß da hinunter, und wenn ich gar keine Beine hätte.«
»Nein, nein, bitte nicht! « flehte Asmik. »Es kann ein Unglück geschehen.«
»Ich will mir ja gerade das andere Bein auch brechen, damit du mich bedauern und pflegen sollst«, fuhr Grikor, der ewige Spaßmacher, fort, indem er nach der Strickleiter griff.
Asmik machte ein böses, verzweifeltes Gesicht.
»Wenn du mich so böse ansiehst, werde ich mich vor lauter Verzweiflung in den Abgrund stürzen«, sagte Grikor mit gekränkter Miene und begann, die Leiter hinabzusteigen.
Er kletterte mit solcher Geschwindigkeit hinunter, daß es Asmik so vorkam, als sei er tatsächlich in den Abgrund gestürzt.
»Oh, Großväterchen! « schrie sie auf und warf sich dem Alten an die Brust.
Armjon war auch etwas beunruhigt. Doch schon nachwenigen Augenblicken drangen von unten Grikors Freudenrufe herauf:
»Ach, ihr meine Guten! Mein Leben geb' ich her für eure Liedchen, für eure süßen goldenen Waben! Wartet nur, ich bringe euch allesamt in den Kolchos!«
Dann wurde es still. Erst nach längerer Pause hörten sie Grikor begeistert rufen:
»Kinder, hier haben wir das Süßeste, was es auf Erden gibt! Ist das ein Honig! Nicht Honig, nein — flüssiges Gold, nicht Wachs — sondern Bernstein!«
Grikor verschwand in der Höhle. Die oben Zurückgebliebenen warteten gespannt auf das, was nun weiter geschehen würde.
Nach einigen Minuten kam Grikor wieder aus der Felsenspalte hervor.
»Vor tausend Jahren haben hier Menschen gehaust!« schrie er. »Was da nicht alles rumliegt... Töpfe, Dolche, Schädel, Knochen... Wahrhaftig, mir steht der Verstand still!«
Nach Grikor schaute auch Kamo aus der Höhle heraus. Als er die über den Abgrund lugenden Köpfe des Großvaters und Armjons sah, rief er hinauf:
»Geht in die Schlucht zurück! Wir lassen alles, was wir finden, runter.«
Die Zeit, die der Großvater, Armjon, Asmik und Tschambar für den Abstieg in die Schlucht brauchten, nutzten Aram Michailowitsch und seine beiden jungen Forscher dazu aus, die Höhle näher zu untersuchen.
Die Geheimnisse der Höhlen
Aram Michailowitsch und die Knaben standen auf der Felsenplattform und konnten die Wände des Tschantschakar nunmehr aus nächster Nähe betrachten. Linker Hand bemerkten sie eine Höhle, vor der wie eine Wolke ein aufgeregter Bienenschwarm in Bewegung geraten war. Ein Teil der Bienen kam zu dem Felsplateau herüber und summte unheildrohend über den Köpfen der Eindringlinge. Ein Sonnenstrahl fiel in die Höhle, und die Waben, die unmittelbar am Ein-gang einen Teil der Wände bedeckten, waren jetzt deutlich sichtbar.
»Wie haben es die Menschen nur fertiggebracht, solche Krüge in die Höhle zu schaffen?« fragte Kamo den Lehrer.
»Ja, das ist wirklich ein Rätsel«, antwortete Aram Michailowitsch kopfschüttelnd.
»Schade, daß wir an unserer Strickleiter nicht zum Eingang runtergeklettert sind! «
»Das braucht uns nicht leid zu tun. Wir wollen jetzt erst diese Höhle gründlich untersuchen. Aber, Kinder, geht mit allem, was wir auch finden werden, recht behutsam um«, mahnte der Lehrer.
Sie krochen in die Höhle hinein, und als Kamo sich im Halbdunkel umsah, rief er enttäuscht:
»Hier scheint überhaupt nichts zu sein.«
»Doch, ich hab' etwas! « antwortete Grikor und brachte aus dem Hintergrund der Höhle vorsichtig ein schweres Tongefäß ans Licht. »Haben unsere Vorfahren vielleicht Milch darin sauer werden lassen? Seht nur, wie groß das Ding ist! Und was ist das hier? Damit kann man ja jemanden töten!« rief Grikor und schwenkte triumphierend einen langen Speer.
Jetzt wurde auch Aram Michailowitsch von dem Eifer angesteckt. Hastig griff er nach dem Speer.
»Ja, Kinder«, sagte er, »das ist wirklich ein interessanter Fund. Wir wollen die Höhlen gut durchsuchen.«
Der Eingang war ziemlich breit; je weiter man aber hinein kam, desto enger und niedriger wurde die Höhle. Der Hintergrund verlor sich ganz im Dunkel.
Grikor entdeckte einen Bogen.
»Eine Waffe unserer Ahnen!« rief er. »Aber wo sind die Pfeile dazu?«
»Die Pfeile werden sie vermutlich auf ihre Feinde abgeschossen haben«, meinte der Lehrer, der einen leeren Köcher gefunden hatte.
Grikor tastete sich im Dunkeln weiter, befühlte die Wände und alle Felsvorsprünge, Ecken und Kanten. Plötzlich klirrte es metallen. Grikor hatte mit dem Fuß gegen etwas Hartes gestoßen. Er bückte sich und hob es auf.
»Sehen Sie nur, was ich gefunden habe, Aram Michailowitsch!« rief er.
Der Lehrer und Kamo richteten das Licht ihrer Taschenlampen auf Grikors Fund. Es war ein kurzes Schwert mit einem schönen geschnitzten Griff.
»Das hat sicher einem Fürsten gehört«, meinte Grikor, stolz auf seine Entdeckung.
»Ist schon möglich. Es ist ein Seldschukenschwert. Die Seldschuken sind im dreizehnten Jahrhundert in Armenien eingedrungen«, belehrte Aram Michailowitsch die Kinder.
»Dann ist es wohl eine Kriegstrophäe?« fragte Kamo.
»Das haben sie dem Feind abgenommen, und wahrscheinlich ist es sogar vergiftet«, war Grikors kühne Mutmaßung. »Die Seldschuken vergifteten damals die Spitzen ihrer Speere und Schwerter, das habe ich im Geschichtsbuch gelesen.«
»Was ist das für ein Metall?« fragte Kamo. »Es ist nicht verrostet, glänzt aber auch nicht.«
»Es sieht aus wie Bronze. Während unsere Väter damals bereits eine hochentwickelte Kultur hatten, befanden sich die Barbaren, die sie überfielen, noch in der Bronzezeit; sie haben damals unsere alte Kultur zerstört«, erklärte Aram Michailowitsch nachdenklich, während er das Schwert in seinen Händen wog.
Grikor war viel zu ungeduldig; er hörte die Erklärungen des Lehrers nicht bis zu Ende an. Nachdem er einen so wichtigen Fund gemacht hatte, brannte er darauf, noch Wertvolleres zu finden.