Nachdem die verschiedenen Bienenvölker regelrechte Schlachten geschlagen hatten, trat schließlich Ruhe und Ordnung ein. Für die neuen Schwärme, die bisher keinen Platz gefunden hatten, mußten noch Unterkünfte geschaffen werden. Da nicht genügend Bienenstöcke vorhanden waren, zimmerten Armjon und Kamo unter der Anleitung ihres Lehrers neue Kästen.
»Wie kommt es«, fragte Armjon, »daß die Bienen ihre Wohnungen in den leeren Krügen gebaut haben? Haben denn unsere Vorfahren solche Krüge als Bienenstöcke verwendet? «
»Deine Vermutung, daß die Flüchtlinge damals auf dem Weg über die hohe Eiche in die Höhlen gelangt sind und dann nicht wieder zurück konnten, hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit«, sagte der Lehrer. »Aber der Gedanke, daß sie Bienenvölker auf ihrer Flucht mitnahmen und in Tonkrügen ansiedelten, erscheint mir doch recht fragwürdig. Es ist viel wahrscheinlicher, daß die wilden Bienen, nachdem es in den Höhlen keine Menschen mehr gab, beim Ausschwärmen diese bequemen und praktischen Wohnungen aufgesucht haben.«
Die Bienen hatten sich schon nach wenigen Tagen in ihrer neuen Umgebung eingelebt; sie hatten mit ihrer Suche nach Nektar begonnen und summten nun fleißig über den Wiesen umher. Großvater Assatur zeigte Grikor, wie die Bienen versorgt werden mußten.
Manchmal hüpfte Grikor auf seinem gesunden Bein erstaunlich geschwind zum Zaun der Geflügelfarm.
Neckend rief er Asmik zu:
»Was willst du nur mit den dummen Küken? Schaff dir lieber Bienen an — dann hast du immer was Süßes zum Schlecken.«
Der Stein aus dem Ring des Feldherrn Artak
Großvater Assatur war jetzt Tag für Tag damit beschäftigt, die Bienenzucht in Gang zu bringen.
Als er eines Tages einen alten, schwarz gewordenen Krug reinigte und die Wabenreste, die sich innen in dem Krug festgesetzt hatten, mit seinem Messer abkratzte, stieß die Klinge plötzlich gegen einen harten, in Wachs gehüllten Gegenstand. Der Alte löste das Wachs ab, und ein grünlich schimmernder Stein in der Größe einer Haselnuß kam zum Vorschein.
Der Großvater freute sich über den hübschen glänzenden Stein und dachte: Ich will ihn Asmik schenken. Er wird ihr gefallen; und ein Mädchen schmückt sich gern. Er steckte den Fund in die Tasche seines Archaluk.
Schon am nächsten Tage kam Großvater Assatur auf den Geflügelhof und bewunderte die jungen Wildvögel, die tüchtig gewachsen waren.
Reichliche Regengüsse hatten in den letzten Tagen das Flüßchen zum Anschwellen gebracht. Auch der Wasserstand im Teich war befriedigend. Eine Menge junger weißer Gänslein schwamm vergnügt auf der glatten Wasserfläche, und die Luft war erfüllt von ihrem lauten Geschnatter. Dazwischen schwammen im bunten Durcheinander die verschiedensten Jungvögel.
Asmik ging dicht an den Teich heran, um ihre Schützlinge zu füttern. Die kleinen Gänschen und Entlein kannten sie gut. Sie schwammen herbei und kletterten Hals über Kopf ans Ufer. Dabei schlugen sie mit den Flügeln, drängten die Schwächeren beiseite und stürzten sich geräuschvoll auf das Futter, das Asmik mit vollen Händen ausstreute.
»Sieh nur, Großväterchen, wie munter sie sind«, rief Asmik dem Alten zu. »Sieh nur, wie sie sich herandrängen.« Der Großvater lächelte:
»Du hast deine Arbeit so gut gemacht, daß du eine Belohnung verdienst«, und er reichte ihr den schönen grünen Stein.
Asmik betrachtete ihn neugierig. Er gefiel ihr sehr gut, und sie stürzte gleich davon, um ihn Armjon zu zeigen.
»Ich bin sofort wieder da, Großväterchen«, rief sie. »Gib du solange auf meine Kinderchen acht.«
Und schon war sie verschwunden.
Als Armjon den Stein sah, runzelte er erstaunt die Brauen. »Meiner Ansicht nach ist das ein Smaragd«, sagte er, »und ich glaube, daß er sehr wertvoll sein muß.«
Asmik erschrak.
»Sehr wertvoll?« stotterte sie.
»Ja, und sieh nur«, fuhr Armjon eifrig fort, »da sind doch Buchstaben oder Zeichen eingeschnitten.«
»Laß mal sehen«, bat Asmik. »Du hast recht... Was kann das nur sein?«
»Laß mir den Stein mal hier«, meinte Armjon. »Ich werde ihn Aram Michailowitsch zeigen, der wird uns sicher sagen können, was das für Zeichen sind.«
Nur widerstrebend trennte sich Asmik von dem schönen Geschenk des Großvaters.
Zu Hause angelangt, betrachtete Armjon den Stein durch eine Lupe und machte einen Freudensprung. Das war ja eine großartige Entdeckung. In dem Stein war ein Adler eingeritzt und darunter einige Worte, von denen Armjon allerdings nur den Namen »Artak« entziffern konnte. Winzige Vertiefungen am Rande bewiesen, daß der Stein irgendwo eingelassen gewesen war.
Armjon, der ein gutes Gedächtnis hatte, entsann sich, im Geschichtsunterricht von dem Feldherrn Artak, der vor vielen Jahrhunderten gelebt hatte, gehört zu haben. Sicherlich stammte dieser Stein aus dem Siegelring des Feldherrn, mit dem er seine Erlasse gesiegelt hatte.
Armjon lief, den Stein in der Hand, zu Aram Michailowitsch; der untersuchte ihn sehr genau, und nach längerem Überlegen konnte er die Vermutung des Knaben bestätigen.
»Das kann ein wichtiger Fund für die Geschichtsforschung sein«, sagte der Lehrer. »Woher hast du ihn denn?« »Großvater Assatur hat ihn Asmik geschenkt.«
»Vielleicht hat er ihn auf der Jagd, irgendwo in den Bergen, gefunden. «
Armjon lief sogleich zu dem Alten.
»Großväterchen, woher hast du den Stein?« rief er aufgeregt.
»In einem der Krüge in alten, vertrockneten Honigwaben habe ich ihn gefunden.«
»War sonst nichts in dem Krug?«
»Gar nichts«, sagte der Großvater, »hätte ich gewußt, daß der Stein etwas Besonderes ist, so hätte ich ihn dem Lehrer gleich gebracht.«
Als Armjon dann mit Kamo zusammentraf, erzählte er ihm von dem schönen Stein, den der Großvater auf so komische Weise gefunden hatte.
Der Stein schien wirklich ein Beweis dafür zu sein, daß der Feldherr Artak in den Höhlen des Tschantschakar Zuflucht gesucht haben mußte. Wie hätte sonst der Stein in den Krug kommen sollen?
»Ich habe gehört, daß sich die Menschen von solchen Ringen bis zu ihrem Tode nie trennten«, meinte Armjon. »Sicher gibt es in den Höhlen noch viele solcher merkwürdigen Dinge.«
»Das, was wir bis jetzt gefunden haben, muß armen Leuten gehört haben. Nichts war so kostbar, daß man glauben konnte, es sei im Besitz eines großen Feldherrn gewesen«, meinte Kamo.
Armjon aber war anderer Meinung: »Das will alles nichts besagen. Daß sich Artaks Ring in der Höhle befunden hat, zeigt doch, daß der Feldherr dagewesen sein muß.«
»Gut, Armjon, dann müssen wir also noch einmal ins Gebirge und noch viel gründlicher in den Höhlen herumstöbern.«
Auf eigene Faust, ohne dem Lehrer etwas davon zu sagen, beschlossen die beiden Jungen, sich auf den Weg zum Tschantschakar zu machen, denn sie wünschten sich brennend, ohne jede Hilfe etwas ganz Großes zu entdecken, so daß alle Welt staunen würde.
Am nächsten Tage standen Armjon, Grikor und Kamo bereits in aller Frühe auf dem Gipfel des Tschantschakar. Immer noch schwirrte eine Unmenge von Bienen vor den ausgeräumten Höhlen. Die Jungen hatten die Strickleiter mitgenommen und kletterten, wie beim erstenmal, vorsichtig zur Felsenplattform herunter. Dieses Mal wollten sie alles noch viel gründlicher durchsuchen. Während sie zu der Höhle gingen, in der das Skelett sie erschreckt hatte, blieb Kamo plötzlich stehen und blickte auf ein Loch, das wie der Zugang zu einem Dachsbau aussah.
Sie leuchteten mit der Taschenlampe hinein und sahen, daß es ein enger Gang war.
Kamo schlüpfte als erster hinein.
»Folgt mir, Freunde«, rief er. »Seht euch aber vor. Es ist eng hier drinnen.«