Kaum waren sie in dem Loch verschwunden, als Grikor einen Schmerzensschrei ausstieß:
»Au, dieser verfluchte Stein! Ist er denn blind? Sieht er denn nicht, daß jemand kommt?«
»Was ist los? Hast du dir den Kopf gestoßen?«
»Ja und wie. Der Stein war härter als mein Kopf.«
Kamo und Armjon mußten lachen. Wenn einer von ihnen sich weh getan hatte, war ein Scherz das beste Heilmittel. Der Junge biß die Zähne zusammen, er hatte zwar eine tüchtige Beule an der Stirn, und es war ihm eigentlich gar nicht nach Scherzen zumute, aber sein Humor siegte, und er lachte fröhlich mit.
Nachdem sie in dem engen Gang einige Meter gekrochen waren, kamen die Jungen zu einer kleinen Höhle. In den Felsen gehauene Stufen führten von dort aufwärts in eine größere Höhle, die fast rund war und eine kuppelartige Decke hatte.
Phantastische Figuren bedeckten die Wände und gaben ihr ein märchenhaftes Aussehen.
Die Knaben bestaunten diese wunderbaren, von der Natur geformten Gebilde.
»Wahrscheinlich ist es Kalk, mit verschiedenen Mineralsalzen vermischt, die sich im Wasser aufgelöst haben. Der Kalk mag an den Wänden heruntergeflossen sein und ist im Laufe der Zeiten versteinert«, meinte Armjon. »So können sich diese komischen Tropfsteinfiguren nur gebildet haben.«
Plötzlich schrie Grikor auf. Wie zur Bildsäule erstarrt, wies er stumm in eine Ecke.
Entsetzen packte die Kinder. Dort kauerten, Schulter an Schulter, zwei menschliche Skelette, von denen das eine einen mit funkelnden Edelsteinen besetzten Helm auf dem Kopfe trug. Darunter gähnten die leeren Augenhöhlen; und durch die gefletschten Zähne sah es aus, als grinse der Totenschädel.
Kamo faßte sich als erster.
»Ihr braucht euch nicht zu fürchten«, sagte er, »es sind menschliche Skelette. Nun haben wir vielleicht auch den Besitzer des Siegelrings gefunden.« Kamo zeigte auf das Skelett mit dem edelsteingeschmückten Helm. »Und das andere kann die Frau des Feldherrn gewesen sein.«
Behutsam berührte Kamo das kostbare Geschmeide am Halse des zweiten Gerippes, dessen Knochenbau zweifellos zierlicher war. Die Edelsteine strahlten in dem Halbdunkel der Höhle hell auf.
Als Kamo dann das männliche Skelett genauer betrachtete, entdeckte er an der Seite einen kleinen edelsteingeschmückten Dolch SogIeich vermuteten die Jungen, daß der Feldherr aus Verzweiflung über seine hoffnungslose Lage sicher Selbstmord begangen habe.
»Ja, das weiß ich aus dem Geschichtsunterricht«, rief Armjon. »Artak hatte sich das Leben genommen. Sicher, weil er dem Feinde nicht lebend in die Hände fallen wollte. Artak muß ein sehr tapferer Feldherr gewesen sein. Er hat den Aufstand der Bauern im Sewangebiet geführt.«
Die Jungen versuchten nun, sich im Geiste die Tragödie vor-zustellen, die sich vor langer Zeit in dieser Höhle abgespielt haben mußte.
Kamo meinte, die Höhle sähe mit ihrem merkwürdigen Wandschmuck und den Tropfsteingebilden wie ein alter Tempel aus, in dem Kronleuchter von der Decke herabhingen.
Armjon, der gleich überall herumstöberte, rief plötzlich begeistert aus:
»Ich habe Artaks Schwert gefunden. Seht mal, es ist mit Edelsteinen besetzt und so schwer, daß man es kaum aufheben kann. Wenn Artak mit einem solchen Schwert gekämpft hat, muß er sehr groß und stark gewesen sein.«
»Das war er auch«, antwortete Kamo. »Das kannst du sogar an dem Skelett sehen; ein Riese muß er gewesen sein ... Was hast du, Grikor? Du siehst ja ganz bleich aus.«
Grikor hatte wieder etwas entdeckt, das ihm die Sprache verschlagen hatte.
Stumm deutete er auf einen Haufen Skelette, die nicht weit von den beiden zuerst entdeckten in einem Winkel lagen; neben ihnen häuften sich Schilde, Köcher mit Pfeilen, Speere, Helme aus Kupfer und Harnische aus Bronze.
»Wißt ihr, was das bedeutet«, rief Armjon. »Hier liegt der Rest der Krieger, die unter Artak gekämpft haben. Sie haben mit ihrem Leben unsere Heimat verteidigt. Ich glaube«, fuhr Armjon fort, »es ist besser, wenn Aram Michailowitsch diese Altertümer selber holt, oder noch besser, es kommt jemand aus Jerewan. Wir wissen nicht, wie man mit solchen Dingen umgehen muß. Nur dies hier wollen wir mitnehmen.«
Und Armjon gab Grikor Artaks Helm und das Halsgeschmeide zum Tragen.
»Nimm du das Schwert, Kamo, es ist schwer, und du hast die meisten Kräfte. Ich werde noch den Dolch nehmen.«
Kamo und Grikor stimmten Armjon zu, und die Kinder krochen durch den engen Gang wieder ins Freie und kletterten an der Strickleiter zum Gipfel des Tschantschakar empor.
In der Ferne heulte der ,Wassermann'. Kamo drohte ärgerlich: »Auch dich werden wir eines Tages kriegen!«
Professor Sewjan kommt nach Litschk
In der Mittelschule des Dorfes Litschk ging es heute außergewöhnlich lebhaft zu. Die Tür zum Physikzimmer stand weit offen. Die Schüler schafften die Unterrichtsmittel in aller Eile in das danebenliegende chemische Laboratorium. Das große Zimmer mußte ausgeräumt werden, um die reiche Sammlung der von den jungen Naturforschern entdeckten Altertümer auf-zunehmen. Aram Michailowitsch war diesmal nicht nur Lehrer für Naturkunde, sondern mußte auch als Archäologe seinen Mann stehen.
Kamo, Armjon, Asmik und Grikor halfen ihm. Behutsam wurden die in den Höhlen des Tschantschakar aufgefundenen Gegenstände in den freien Raum getragen und an die von Aram Michailowitsch bezeichneten Plätze gelegt.
Asmik bewunderte den Halsschmuck der Frau des Feldherrn Artak mehr als alles andere, während Kamo über das Schwert des Feldherrn immer wieder in Begeisterung geriet. Als der Lehrer einmal hinausging, konnte Kamo der Versuchung, sich den Helm des Feldherrn auf den Kopf zu setzen, nicht widerstehen. Er nahm den Schild in die linke Hand, und mit der rechten hob er das Schwert in die Höhe. Es war so schwer, daß er sich dabei gewaltig anstrengen mußte und ganz rot im Gesicht wurde. Feierlich deklamierte er die Worte des armenischen Feldherrn Georg Marspetuni, der im zehnten Jahrhundert gelebt hatte:
»Ich schwöre euch, bei der Liebe zu meiner Heimat, daß ich nicht eher in den Schoß meiner Familie und unter das Dach meines Hauses zurückkehren werde, bis ich auch den letzten Feind von unserem Heimatboden vertrieben habe. . .«
Die Schulkinder drängten sich an der Tür zusammen und klatschten laut Beifall.
»Das glaube ich dir«, rief Asmik. »Du würdest sicher auch in den Krieg gehen und unsere Feinde vertreiben.«
Da tauchte der Lehrer in der Tür auf. Schnell setzte Kamo den Helm ab, legte das Schwert beiseite und tat ganz harmlos. Verlegen rückte er an einem Krug; aber Aram Michailowitsch schüttelte nur nachsichtig lächelnd den Kopf.
»Wir wollen unser Schulmuseum als eröffnet betrachten«, rief er. »Kommt herein, Kinder! «
Drei Tage darauf traf eine Gruppe Gelehrter aus Jerewan im Dorfe Litschk ein. Professor Sewjan war mit ihnen gekommen. Als er die Funde erblickte, geriet er in wahre Begeisterung und rief freudig: »Was ihr da gefunden habt, ist so wertvoll, daß es sich gar nicht abschätzen läßt.«
Später, in der allgemeinen Kolchosversammlung, sprach Professor Sewjan von der außerordentlichen Bedeutung, die die aufgefundenen Gegenstände für die Geschichtsforschung hätten. Er sagte aber auch, daß die kühnen jungen Naturforscher des Dorfes Litschk eine Anerkennung verdient hätten, und dankte ihnen im Namen der Armenischen Akademie der Wissenschaften.
»In einiger Zeit«, fügte der Professor dann noch hinzu, »werden Kamo, Armjon, Asmik, Grikor und Großvater Assatur von der Regierung wertvolle Geschenke erhalten.«
Nicht alle Zuhörer waren mit den Worten des Professors einverstanden. Artusch zum Beispiel konnte seinen Neid und seinen Haß kaum verbergen. Aber Grikor, der neben seiner Mutter saß, freute sich um so mehr; seine großen, klaren Kinderaugen glänzten vor Freude und Begeisterung.