»Woher wißt ihr das?« fragte der Alte ganz verdutzt. »Du hast recht. . .«
Der Lehrer schmunzelte.
»Wir wissen Bescheid... Nicht wahr, Armjon?«
Kamo fühlte sich durch diese geheimnisvollen Andeutungen zurückgesetzt. Es kränkte ihn, daß Asmik den klugen Armjon so unverhohlen bewunderte. Doch kaum hatte er dies zu Ende gedacht, fragte er sich: Ist es vielleicht Neid von mir? Und er schämte sich.
Endlich hatten sie den Kamm erreicht. Aram Michailowitsch und Armjon blickten sich an und lächelten. Der Felsenpfad war hier so glatt, als sei er poliert.
»Seht euch das mal genau an. Nur Wasser kann die Steine so abgeschliffen haben, Wasser, das über diesen vermeintlichen Weg zum Dorfe Litschk hinabgeflossen ist«, sagte der Lehrer, indem er auf die blanken Steine zeigte. »Hier wird ein Wasser-fall gewesen sein.. . Kamo, grabe dort nach, vielleicht findest du Steine, die so aussehen wie Kieselsteine in den Flüssen.«
Kamo nahm die Spitzhacke und lief zu der Stelle, an der sich der Wasserfall befunden haben mußte. Tschambar folgte ihm auf den Fersen. Der Hund war tief enttäuscht, weil der alte Jäger sein Gewehr auf der Schulter behielt und weil von einer Jagd nichts zu merken war.
Kamo kam bald wieder zurück. Er hatte die ganze Mütze voll kleinerer und größerer Kieselsteine, die Armjon und der Lehrer genau untersuchten.
»Seht ihr, diese Steine haben keine scharfen Kanten - sie sind vom fließenden Wasser glattgeschliffen.«
»Ja, das stimmt«, meinte der Großvater, »das sind Steine, die im Wasser gelegen haben.«
»Unsere Annahme trifft also zu, Armjon. Nicht Herden haben diesen Weg ausgetreten, und niemand hat ihn angelegt, es ist ein uraltes, ausgetrocknetes Flußbett.«
»Ein Flußbett?« rief Asmik erstaunt aus.
Auch Kamo sah ungläubig drein, und der Großvater rief: »Ein Fluß — woher denn? Man kann den ganzen Dali-Dagh umwühlen und wird keine einzige Quelle finden.«
»Das werden wir jetzt feststellen, Großvater. Wo ist nun dein Drache? Führe uns hin zu ihm. «
Bei dem Wassergott
Obgleich die Hitze immer unerträglicher wurde und die Sonne unbarmherzig auf sie herabbrannte, schritten die Freunde unverdrossen weiter. Die Ungeduld, das Geheimnis des Wasserlaufs zu lösen, trieb sie vorwärts. Keiner klagte über Müdigkeit.
Als sie den nächsten Abhang erstiegen hatten, lag das majestätische Bergmassiv des Tschantschakar und der Schwarzen Felsen vor ihnen. Der Himmel war klar und wolkenlos. Das makellose Blau spiegelte sich im Sewan und gab dem See eine durchsichtig-blaue Färbung. Wie in einem Spiegel waren die hohen Bergkuppen des Tschantschakar auf der blanken Wasserfläche zu sehen. Die Wanderer gelangten in die Schlucht unter-halb der Schwarzen Felsen. Der Großvater führte sie zu einem länglichen Steingebilde, das, halb im Geröll vergraben, einem Krokodil mit aufgesperrtem Rachen glich. Das war der Drache, von dem der Alte gesprochen hatte.
»Hier ist er«, sagte der Großvater und wies auf den Stein.
Aram Michailowitsch rief begeistert:
»Wir haben den Ausgangspunkt des Wasserlaufs gefunden!
« Etwas ruhiger geworden, fuhr der Lehrer fort:
»Vor zweieinhalb Jahrtausenden haben sich die damaligen Bewohner unseres Landes einen Wassergott so vorgestellt.
Sie pflegten solche Götter an den Quellen der Flußläufe oder an künstlichen Sammelbecken und Kanälen aufzustellen. Hier müssen wir also nach Wasser graben.«
Die ersten Versuche verliefen ergebnislos, und die kleine Gruppe kehrte am Abend ermattet und etwas enttäuscht ins Dorf zurück; doch schon am frühen Morgen des nächsten Tages fanden sie sich wieder an der Stelle ein, an der der Drache stand, und setzten die begonnene Arbeit fort. Sie gruben um die Wette; jeder war bemüht, den anderen zu überflügeln. Grikor kam am schnellsten voran, und er wurde auch bald da-für belohnt: beim Graben stieß er plötzlich auf einen großen flachen Stein.
»Hier ist eine Steinplatte«, rief er. »He, ihr Gelehrten, kommt mal her!«
Die Kameraden eilten herbei. Mit vereinten Kräften legten sie eine zersprungene Steinplatte frei, auf der sie beim genauen Betrachten eine Inschrift entdeckten.
Aram Michailowitsch war beim Anblick dieser Inschrift vor Freude kaum zu halten. Trotz eifrigen Bemühens konnte er jedoch nur zwei Worte entziffern: ,Sardur' und ,Pili'.
»Sardur? War das nicht ein urartischer Herrscher?« fragte Kamo erstaunt.
»Sehr richtig!« erwiderte der Lehrer. »Sardur hat mehrere Jahrhunderte vor der Gründung des armenischen Reiches das damalige Urartu beherrscht. Er war ein großer Bauherr und überzog das Land mit einem Netz von Kanälen. Urartu war ein kriegerischer Feudalstaat; die Kanäle wurden von gefangenen Kriegern erbaut, die Sardur von seinen Eroberungszügen mitgebracht hatte. Er machte sie zu seinen Sklaven. Unzählige von ihnen sind beim Bau dieser Kanäle ums Leben gekommen.
Am Ausgangspunkt der Kanäle finden sich heute noch Steinbilder der Wassergötter. Unsere Gelehrten haben erst vor kurzem an den Abhängen des Achmagan sechs Standbilder dieser Art gefunden, was darauf hindeutet, daß es dort Kanäle zur Bewässerung des wasserarmen Kotaik-Gebietes gegeben haben muß. «
»Und was heißt Pili?«
»Pili ist die urartische Bezeichnung für Kanal.«
»Ihr meint also, daß es hier früher einen Kanal gegeben hat?« fragte Kamo.
»Du hast aber eine lange Leitung«, scherzte Grikor lachend. Und auch Asmik prustete los.
Kamo wurde vor Ärger ganz rot. Weshalb hatte er auch eine so dumme Frage stellen müssen.
»Gewiß«, bestätigte der Lehrer, »es scheint sicher, daß hier ein Kanal gewesen ist.«
Der Großvater hatte stumm zugehört. Was für eine unheimliche Macht war doch die Wissenschaft! Da sieht ein gelehrter Mensch so einen unförmigen Steinblock mit merkwürdigen Kratzern bedeckt und erkennt daran, was ein Herrscher, der vor mehr als zweitausend Jahren lebte, getrieben hat. So alt der Jäger Assatur auch geworden war, und soviel er in seinem langen Leben auch gesehen hatte, das war ihm doch zuviel! Die Erfolge der Wissenschaft überwältigten ihn.
»Ja«, sagte der Lehrer nachdenklich, »ohne die Hilfe der Akademie der Wissenschaften werden wir nicht auskommen. Wir müssen über unsere Entdeckungen sogleich nach Jerewan berichten. Kommt, wir wollen schnell nach Hause.«
Sie nahmen ihre Geräte auf und kehrten auf dem kürzesten Wege ins Dorf zurück.
Aram Michailowitsch setzte sich noch am gleichen Tage telefonisch mit den zuständigen Stellen in Jerewan in Verbindung. Ganz aufgeregt rief er in den Apparat:
»Wir warten schon seit langem auf einen Geologen der Akademie der Wissenschaften. Er soll uns behilflich sein, noch einige wichtige Fragen zu klären. Wir haben heute das Bett eines Flußlaufs, vielleicht eines Kanals, der anscheinend aus der Herrscherzeit Sardurs stammt, entdeckt,...«
Diese Nachricht schlug in der Akademie der Wissenschaften wie eine Bombe ein. Zwei Stunden später schon landete auf dem flachen Felde, am Ufer des Sewan, ein Flugzeug, und das Kolchosauto wurde hingesandt, um Professor Sewjan und einige Archäologen ins Dorf zu bringen.
Der Professor umarmte Aram Michailowitsch.
»Guten Tag, guten Tag«, rief er. »Sie müssen ja etwas ganz Außergewöhnliches entdeckt haben, daß man mich alten Mann noch einmal hierherschickt.«
»Haben wir auch. Wir haben am Ausgangspunkt eines alten Kanal- oder Flußbetts eine Steinplatte mit einer chalybischen Inschrift gefunden. Leider ist die Platte zerschlagen, und einige Schriftzeichen fehlen, so daß ich die Inschrift nicht vollständig zusammenbringe. Vielleicht wird es Ihnen gelingen.«
Der Professor lachte vergnügt.
»Jeder solcher Funde trägt dazu bei, mich zu verjüngen. Im Augenblick bin ich so energiegeladen wie dieser junge Herkules hier«, sagte der Professor, indem er Kamo freundlich auf die Schulter klopfte. »Nun, wir wollen keine Zeit verlieren. Führen Sie uns zu der Platte. Sie haben das Wort ,Pili' entziffert? Sie haben recht, das bedeutet Kanal. Vielleicht gelingt es uns tatsächlich, einen Kanal, den der urartische Zar Sardur anlegte, heute wieder für unsere Kolchosfelder nutzbar zu machen. Was würden Sie dazu sagen?« wandte sich der Professor mit einem freundlichen Lächeln an den Kolchosvorsitzenden.