»Eine Legende?« Der Geologe horchte auf. »Kennst du sie, Großväterchen? Erzähle sie uns doch ausführlicher.«
»Wie soll ich sie nicht kennen«, sagte der Alte und strich sich selbstgefällig über seinen langen weißen Bart. Er setzte sich auf die Polsterbank und stopfte, bevor er mit seiner Erzählung begann, umständlich seine Pfeife.
Die andern nahmen im Kreis um ihn Platz und warteten voller Spannung auf seine Erzählung.
Die Legende vom Wasser
»Es heißt«, begann der Großvater, »daß es in alten, uralten Zeiten ein Land gegeben hat, in dem der Wolf und das Schaf friedlich nebeneinander lebten. Von fernen Bergen strömte ein Fluß zu Tal.
Das klare, kalte Wasser erfrischte Felder und Gärten, alles ringsum war mit üppigem Grün bedeckt. Es gab Früchte in Hülle und Fülle. In jenen fernen Zeiten, so erzählt man sich, gab es weder Reiche noch Arme; alle lebten in Wohlstand und genossen die Gaben ihres gesegneten Landes und der fruchtbaren Natur. Sie hatten Wasser im Überfluß.
Die Menschen wußten nicht, was Not ist. Es war niemand da, der ihnen die Früchte ihrer ehrlichen Arbeit wegnahm. Und das Wasser, das von den Bergen herabfloß, bedeckte die steilen Abhänge mit frischem Grün für ihre Herden.
Doch in einem Sommer bemerkten die Menschen plötzlich, wie das Wasser weniger wurde. Diejenigen, die stärker waren als die anderen, eigneten sich sofort mehr Wasser an. Ihre Ernte wurde besser, und sie wurden reicher und mächtiger als ihre Nachbarn, die nicht genug Wasser hatten. Von da an wurden die Reichen zu den Herren des Wassers und nahmen den Armen dieses kostbare Gut weg, das die Natur allen geschenkt hatte.
Je weniger Wasser es gab, desto weniger blieb für die Armen übrig. Die Reichen aber bewässerten ihre Felder im Überfluß, und die Armen hatten das Nachsehen.
Die Gärten und Felder der Armen verdorrten, ihre Ernte verdarb und ihr Vieh verdurstete. Da lehnten sich die Menschen auf und forderten ihren gerechten Anteil am Wasser. Die Reichen bewaffneten ihre Diener, ließen sie an den Quellen Wache stehen und befahlen ihnen, das Volk nicht heranzulassen. ,Euer Wasser', sagten sie den Menschen, ,geht auf dem Wege von den Bergen verloren. Wendet euch an den, der es euch raubt.’
Die Armen nahmen Spaten und Spitzhacken und stiegen auf die Berge. Nach langem mühseligem Klettern kamen sie zu den Quellen und sahen, daß es, wie stets, Wasser im Überfluß gab. Es sprudelte und schäumte durch die Schluchten. - Plötzlich verschwand es. Doch bald kam das Wasser wieder zum Vorschein, nicht mehr so ungestüm wie vorher, sondern in einem dünnen, kraftlosen Rinnsal. Da machten sich die Menschen daran, die Felsen aufzuspalten. Sie wollten ergründen, wohin das Wasser verschwand.
Tag und Nacht arbeiteten sie schwer, denn es ist keine Kleinigkeit, Felsen von der Stelle zu rücken. Schließlich gelangten sie in eine Höhle. In einem mächtigen Strom floß das Wasser hinein und kam als dünner, kraftloser Strahl wieder heraus. Nun freuten sich die Menschen; sie hatten herausgefunden, wohin das Wasser verschwand. Es konnte doch nicht so schwer sein, festzustellen, warum es verschwand. Mit Pechfackeln durchleuchteten sie die Höhle, und siehe da, in einem Winkel hockte ein furchterregender Drache. In seinen aufgesperrten Rachen ergoß sich die mächtige Flut. Und nur noch die kümmerlichen Reste, die vorbeiflossen, gelangten in das Dorf.
Der Drache aber schien vor den Augen der verängstigten Menschen ins Ungeheuerliche zu wachsen. Feuer sprühte aus seinen Nüstern, und er brüllte mit dröhnender Stimme: ,Fort mit euch, erbärmliches Menschenvolk, sonst verschlinge ich euch mit Haut und Haaren!'
Die armen Menschen zitterten vor Angst und schlichen davon. Sie hörten, wie es hinter ihnen polterte, als der Drache den Zugang zu seiner Höhle mit gewaltigen Felsblöcken verschloß.
Nachdem die Menschen in ihr Dorf zurückgekehrt waren, beschlossen sie, in den Bergen ein steinernes Standbild des Drachens zu errichten, dem sie alljährlich Opfer darbrachten und das sie anflehten, ihnen etwas mehr Wasser zu geben, damit sie nicht verdursteten und ihre Ernte nicht verdorrte.« Der Geologe hatte nachdenklich zugehört und sagte:
»So lebten die Menschen in wasserarmen Gegenden von Generation zu Generation weiter, sie wurden von den Sagen verfolgt, daß böse Geister ihnen das kostbare Naß raubten. Nie gaben sie die Hoffnung auf, daß eine Zeit kommen würde, in der sie dem Drachen nicht mehr zu opfern brauchten. Diese Zeit ist gekommen, eine Zeit, in der die Felsen gesprengt wer-den, dem Ungeheuer der Kopf abgeschlagen und in der es Wasser in Hülle und Fülle für alle geben wird.«
»Unser Flüßchen ist also sozusagen das, was der Drache uns übrigläßt?« fragte Grikor.
»Kommt, wir wollen den Drachen suchen und ihm den Kragen umdrehen«, ereiferte sich Kamo. Er war noch so kindlich, daß ihn dieser Drache aus dem Märchen in Wut versetzte. Der Geologe sagte lächelnd:
»Der Sinn dieser Legende ist tiefer. Der Kopf des Drachen wurde in unserem Lande bereits zerschmettert - das hat die Große Sozialistische Oktoberrevolution getan. Der Quell des Daseins, des Glücks unseres Volkes sprudelt mit überschäumen-der Lebenskraft. Aber die Legende sagt uns noch etwas anderes - sie sagt uns, daß es hier Wasser gegeben hat und daß es verschwunden ist. Das verschwundene Wasser müssen wir finden. . .«
Zwei Tage darauf ließen die Geologen Kamo und seine Freunde zu sich kommen. Auch der Kolchosvorsitzende und Aram Michailowitsch fanden sich ein.
Aschot Stepanowitsch sagte ihnen:
»Ihr jungen Forscher habt bereits vieles erreicht, aber das Wasser zu. finden, ist euch immer noch nicht gelungen. Irgend-wo im Innern des Dali-Dagh ist Wasser vorhanden. Die Erinnerung an das Wasser ist uns nicht nur in den Steinen erhalten geblieben, sie lebt auch in den Herzen der Menschen. Die Legende, die uns Großvater Assatur neulich erzählt hat, wurde von Generation zu Generation überliefert. Diese Legende hat einen verborgenen Sinn. Wenn die Menschen Märchen und Legenden erdichten, so überliefern sie, im Grunde genommen, den nachfolgenden Generationen wahre Berichte über das, was gewesen ist... Sie schildern Tatsachen, wenn sie sie auch in eine phantastische Form kleiden... Unsere Aufgabe ist es nun, den Sinn der Legende zu ergründen. Daran wollen wir gemeinsam arbeiten! «
Der grüne Flecken
Zusammen mit den jungen Forschern erstiegen die Geologen während der nächsten Tage mehrmals die Höhenzüge des Dali-Dagh. Sie suchten alle Felsen ab, untersuchten jeden Spalt, jede Höhle, jede Schlucht... Nicht die geringste Spur von Wasser war zu finden.
Sobald sie irgendwo verdorrtes Schilf erblickten, wuchs ihre Hoffnung, auf Wasser zu stoßen - Schilf konnte ja nicht auf trockenem Boden gewachsen sein!... Fielen ihnen an einer Stelle grüne Büsche in die Augen, so stürzten sie auf sie zu, untersuchten alles ringsum und gruben das Erdreich auf - konnten denn solche Büsche ohne Feuchtigkeit wachsen?
Eines Tages, als sie, von den langen und erfolglosen Nachforschungen ermüdet, schon im Begriff waren, den Heimweg anzutreten, erblickte Armjon plötzlich an einem der Abhänge des Dali-Dagh einen grünen Flecken. Er war weit entfernt und lag bedeutend höher als die Bergspitzen der Schwarzen Felsen. Wie eine Oase mitten in der Wüste hob er sich vom eintönigen Grau des Gesteins ab.
»Kinder, dort muß Wasser sein!« sagte der Geologe Aschot. »Ohne Wasser wäre ein so frisches Grün in dieser Höhe undenkbar.«
»Wenn es dort Wasser gäbe, müßte es doch zu sehen sein«, meinte Kamo. »Der grüne Fetzen sieht von hier nicht viel größer als ein Taschentuch aus.«