»Weshalb hast du ihn nicht erlegt?« wollte Grikor wissen. »Wie kannst du dir solch einen Braten entgehen lassen?«
Der Großvater blickte Grikor zornig an.
»Wie ruchlos müßte die Hand sein, die auf ein solches Tier schießt!« sagte er empört in seiner pathetischen Art. »Weshalb denn? Ist dieser Bock etwas Besonderes?«
»Etwas Besonderes?... Läge hier an der Quelle ein Wolf oder ein Panther im Hinterhalt — wer würde als erstes Opfer fallen? Natürlich er! Und dennoch geht er, um auszukundschaften, ob für das Rudel keine Gefahr besteht, ob der Weg frei ist! ... Wie ruchlos müßte der sein, der auf ein solches Tier anlegt!« wiederholte der Alte ganz entrüstet.
Wieder war das Rascheln im dürren Gras und das Klappern abbröckelnden Gesteins zu hören. Der alte Jäger verstummte und legte wieder warnend den Finger auf die Lippen.
Auf dem Gebirgskamm, hinter dem der ,Kundschafter' verschwunden war, tauchte jetzt nach und nach das ganze Rudel auf.
Die Tiere sprangen von einem Stein zum anderen und näherten sich in großen Sprüngen der Quelle.
Es waren so viele, daß die Kinder meinten, der Zug nehme kein Ende. Immer neue tauchten über dem Gebirgskamm auf.
Bald umringte das Wild die Quelle, und ein heißer Kampf entbrannte um den besten Platz am Wasser und um das Salz. Krachend stießen die Hörner der Böcke gegeneinander. In ihrer Gier nach Salz und in ihrem grausamen Durst versuchte ein jeder, den anderen beiseite zu drängen.
Die Tiere hatten ein graues Fell mit einem etwas dunkleren Streifen, der vom Kopfe über den Rücken lief. Bei einigen Böcken führte außerdem ein dunkler Streifen quer über den Rücken und zog sich zur Brust hin. Beim Anblick der Tiere dachte Armjon: Eine Kreuzung dieser wilden Böcke mit unseren Haustieren müßte herrliche Exemplare ergeben.
Gierig stillten die Tiere ihren Durst und leckten das Salz. Dazwischen hoben sie sichernd die Köpfe und blickten sich argwöhnisch nach allen Seiten um.
Die in der Wildnis lebenden Tiere halten sich niemals lange am Wasser auf. Aus Instinkt und Erfahrung wissen sie, daß die Gefahr für sie nirgends größer ist als an einer Quelle. Hier liegen ihre Feinde, weil sie damit rechnen, daß die vom Durst gequälten Tiere früher oder später doch zur Tränke kommen werden.
Sobald ihr Durst gelöscht war, kehrten sie unverzüglich auf dem Wege, auf dem sie gekommen waren, zurück. In großen Sätzen erklommen sie den gegenüberliegenden Bergrücken und verschwanden hinter dem Kamm.
Noch lange Zeit, nachdem sich das Rudel entfernt hatte, war der Kopf des sichernden Kundschafters auf der Höhe des Bergrückens zu sehen. Er mußte auf seinem Platz ausharren, bis das ganze Rudel in Sicherheit war.
Erst dann sprang der Bock vom Felsen herab und folgte den anderen nach.
Die Kinder atmeten erleichtert auf.
»Siehst du — und du wolltest, ich sollte schießen!« tadelte der Großvater Grikor nochmals.
»Du brauchtest ja nicht gerade diesen Bock zu erlegen, konntest du nicht einen anderen aufs Korn nehmen? Es waren doch genug«, meinte Kamo.
»Wenn Tiere an der Tränke sind, darf man sie nicht töten. Ein Sprichwort sagt, daß sogar die Schlange den nicht beißen wird, der gerade trinkt. So ist es, Kinder! Der Jäger vergießt zwar Blut, aber auch er hat ein Herz und ein Gewissen.«
»Sag mal, Großväterchen, weshalb waren das lauter Böcke und kein einziges weibliches Tier und auch keine Jungen?« fragte Armjon dazwischen. Diese Frage hatte ihn schon die ganze Zeit beschäftigt.
»Ja, ich habe mich auch gewundert, lauter Böcke!« mischte sich nun auch Asmik ein. »Warum ist das so, Großväterchen? «
Der Alte lächelte und strich sich den langen weißen Bart.
»Woher soll ich es wissen?« erwiderte er, indem er Grikor verschmitzt zuzwinkerte.
Die Kinder standen vor einem Rätsel. Sie versanken für eine Weile in Nachdenken. Als erster brach Armjon das Schweigen:
»Bilden die Böcke denn immer besondere Herden?«
»Nein, nur vom Juni bis Anfang Dezember, nicht länger.«
»Und dann?«
»Dann sind die Böcke mit den weiblichen Tieren zusammen in einer Herde — ein Rudel nennt man das. Sie bleiben zusammen, bis die Jungen geboren werden. Aber sobald die Jungtiere etwas herangewachsen sind, nehmen die Mütter sie, und fliehen von den Vätern möglichst weit fort. Getrennt von den Böcken, leben die Ziegen dann mit ihren Jungen in den Bergen.«
»Sie fliehen von den Vätern fort?« fragte Kamo erstaunt. »Nun ja, sie fliehen in großer Angst vor den Vätern, wie vor einem Wolf oder einem Jäger... «
Die Kinder hörten erstaunt, was der Großvater ihnen berichtete, und die Verwunderung stand deutlich auf ihren Gesichtern. Wie war dieses Rätsel zu lösen? Weshalb fand diese Trennung der Tiere statt?
»Pscht!« flüsterte plötzlich der Großvater und hob den Finger.
Über dem Gebirgskamm, hinter dem die Böcke verschwunden waren, tauchte abermals ein Kopf auf. Die Hörner dieses Tieres kamen den Kindern besonders mächtig vor — fast doppelt so groß wie die des ersten Kundschafters. Diesmal jedoch war es ein weißer Bock, er war außergewöhnlich groß. Wuchtig stand er da, wie ein junger Stier. Er spähte herüber und verschwand wieder.
Vom Jagdeifer gepackt, wurde der Großvater ganz unruhig. Seine Augen bekamen einen fieberhaften Glanz.
»Habt ihr ihn gesehen? — Habt ihr ihn gesehen?« wiederholte er immer wieder. »Er ist ungefähr zwölf Jahre alt, und seine Hörner sind nahezu zwei Arschin[9] lang ...«, flüsterte er auf-geregt. »Ein altes Tier! So alte Böcke kommen selten vor. Wenn sie acht Jahre alt sind, geht es gewöhnlich sehr schnell mit ihnen. Sie werden klapprig und unsicher und sind dann meist ein Opfer der Wölfe.«
»Woran erkennst du, daß er zwölf Jahre alt ist?« fragte Kamo.
»An den Ringen um die Hörner. Jedes Jahr kommt ein neuer Ring hinzu. «
»Und weshalb ist er so weiß?«
»Er ist alt geworden — wie ich«, sagte der Greis und zeigte auf seinen weißen Bart. »Seid still, Kinder! Es kommt ein anderes Rudel zur Tränke.«
Grikor, der sich einen Braten wünschte, bettelte:
»Großvater, jetzt wirst du aber doch eins schießen?«
Doch der Alte herrschte ihn an:
»Nein! Ich sagte dir doch, daß ich so etwas nicht tue!«
Lautes Getrappel drang zu den Kindern. Der weiße Leitbock kam zur Quelle, und ein großes Rudel folgte ihm. Ohne stehenzubleiben, ohne zu sichern näherten sich die Tiere der Wasserstelle. Ihr Fell war rötlichbraun; kaum daß es sich von den Felsen abhob.
Das Rudel hatte seinen Durst gestillt und war gerade wieder hinter dem Gebirgskamm verschwunden; da raschelte es erneut im Gestrüpp, und nun tauchte eine Reihe schlanker, dünnbeiniger Tiere mit auffallend kleinen Köpfen und geschmeidigen Hälsen auf. Sie hatten spitze, kurze Hörner. In eleganten Sprüngen galoppierten sie zur Quelle.
„Gazellen”, flüsterte Asmik aufgeregt. Ihr Herz klopfte so laut und so stürmisch, daß es ihre Freunde hören konnten.
»Pst, das sind wilde Ziegen«, erklärte der Großvater kaum hörbar. Doch so leise sie auch gesprochen hatten, das Tier an der Spitze war wie versteinert stehengeblieben, hob den Kopf und stieß ein paar Warnlaute aus. Die Zicklein, die zum Wasser drängten, horchten auf und eilten zu ihren Müttern. Die übrigen Tiere waren ebenfalls stehengeblieben. Die Farbe ihres Fells verschmolz mit der ihrer Umgebung. Sie waren kaum noch von dem felsigen Hintergrund zu unterscheiden.
Nachdem die Tiere sich überzeugt hatten, daß ihnen keine Gefahr drohte, wandten sie sich wieder der Quelle zu. Doch dann tauchte plötzlich über dem Bergkamm die Silhouette des weißen Leittieres auf. Die Ziege an der Quelle stieß wieder ihre Warnlaute aus, und in wilder Flucht raste das Rudel, von den Zicklein gefolgt, davon und war im Nu in der Schlucht verschwunden.