»Habt ihr das gesehen?« sagte der Großvater.
»Und wie sie davonstoben«, rief Armjon, dem das Dahinjagen des Rudels am besten gefallen hatte.
Der Großvater fuhr fort:
»Die Zicklein werden im Mai geboren, und im Juni, wenn sie etwas herangewachsen sind, trennen sich die Böcke von den Ziegen so plötzlich, als habe sie jemand mit einem Knüppel auseinandergetrieben... Die Böcke ziehen auf die oberen Hänge des Dali-Dagh, die Ziegen mit ihren Zicklein nach unten, zwischen die Felsen.«
»Weshalb zwischen die Felsen?« fragte Kamo erstaunt. »Warum ziehen die Böcke zu den besseren Weideplätzen und die Ziegen zu den schlechteren? Und obendrein noch mit ihren Jungen! «
»Die oberen Felsplateaus sind zu ungeschützt. Nirgends können sich die Tiere verbergen. Den Böcken macht das nicht viel aus. Sie können dem Wolf leichter entfliehen, ja, wenn es sein muß, können sie ihm auch entgegentreten und ihn bekämpfen. Aber wohin sollten die Zicklein fliehen? Darum verbergen sich die Ziegen mit ihren Jungen vor den Wölfen, den Füchsen und Adlern in den Felsenhöhlen.«
»Zwischen den Felsen ist es aber heiß, und viel Grünes finden sie da auch nicht zum Fressen«, meinte Asmik.
»Es bleibt ihnen aber nichts anderes übrig. Die Ziegen sind Mütter und, wie alle Mütter auf der Welt, bringen sie für ihre Kleinen Opfer und nehmen Entbehrungen auf sich«, schloß der Alte und erhob sich.
»Ach, wollen wir doch noch hierbleiben und auf die Ziegen warten, die werden sicher zurückkommen«, bettelte Asmik.
»Wiederkommen werden sie, Kindchen, aber nicht so bald, sie sind jetzt ängstlich geworden. Und ihr habt so lange in der heißen Sonne gesessen - ihr werdet Kopfschmerzen bekommen. - Ja, ein richtiges Paradies habt ihr dem Wild hergezaubert«, fügte der Alte hinzu, indem er ganz verzückt zur Quelle hin-überblickte. »Wenn es nur mehr solcher Quellen gäbe! Habt ihr gesehen, wie sie sich gegenseitig wegdrängten?«
»Ich hab's«, rief Kamo, »wir werden gleich einen großen Brunnen graben.«
»Womit denn? Ihr habt doch keine Spaten.«
»Wir machen uns welche, wir nehmen deinen Dolch und schnitzen Schaufeln, damit können wir die Erde auswerfen. « Gesagt - getan. Aus den stärksten Ästen wurden Schaufeln angefertigt, und Kamo reichte sie den Kameraden:
»Grabe du hier«, sagte er zu Grikor, indem er etwa einen Schritt unterhalb der Quelle einen Kreis zog.
Etwas tiefer noch begann Armjon zu graben, und einen weiteren Schritt tiefer Kamo. Nachdem sie auf diese Weise drei neue Gruben ausgeworfen hatten, verbanden sie sie durch schmale Kanäle mit der Quelle. Nun sickerte das überflüssige Wasser nicht mehr ungenützt in den Boden, sondern füllte die neu ausgeworfenen Gruben.
Der Großvater hatte sich in der Nähe auf einem Stein niedergelassen und beobachtete den Eifer der Kinder.
»Zerbrecht das Steinsalz in kleinere Stücke«, riet er, »und verteilt es an den Wasserlöchern.«
»Es bröckelt«, rief Kamo, »was machen wir mit den kleinen Stücken?«
»Die wirfst du einfach ins Wasser«, rief der Großvater. »Dann sind die Ziegen gleich fertig gesalzen und können gebraten werden«, scherzte Grikor.
Anstatt einer Antwort zeigte der Alte auf den Rand eines tiefer liegenden Felsvorsprungs; dort war eine Ziege mit spitzen kleinen Hörnern aufgetaucht.
»Die Ärmste wartet darauf, daß wir endlich weggehen sollen. Der Durst quält sie... Kommt!« sagte der Großvater und schlug den Weg zum Dorf ein.
»Ach, was haben wir heute alles erlebt«, rief Asmik, als sie daheim angelangt waren. »Eine richtige Expedition war es!«
»Ja, wir haben heute wirklich viel gelernt«, bekräftigte Armjon und sah den Großvater dankbar an.
Der Alte blieb mitten auf dem Wege stehen. Von seinem kahlen Schädel floß der Schweiß in Strömen über das runzlige Gesicht. Er wischte ihn mit seiner Pelzmütze ab.
Armjon sagte, zu Kamo gewandt:
»Wenn wir den Großvater nicht hätten! Was der alles weiß! Er braucht es nur herauszuholen wie aus einer Schatzgrube.«
Großvater Assatur aber hatte nur das Wort Schatzgrube aufgefangen. Er erbleichte.
»Was für eine Schatzgrube?« stotterte er.
»Wir sprechen von dir, Großväterchen«, erwiderte Kamo.
» Von mir? Was habe ich denn mit einer Schatzgrube zu tun?« stotterte der Alte.
»Unerschöpflich ist sie, Großväterchen«, rief Kamo zärtlich. Der Alte wurde immer aufgeregter:
Wissen es die Kinder?... Bin ich verloren? ... ging es ihm durch den Sinn. Und er würde sich zweifellos verraten haben, hätte Kamo nicht hinzugefügt:
»Ist nicht das, was du alles über die Natur weißt, wie eine Schatzgrube?«
»Ach so... diesen Schatz meinst du!« Der Großvater atmete erleichtert auf. »Ja, das ist natürlich ein großer Schatz...«
Dann dachte er eine kleine Weile nach und fügte hinzu: »Mir aber kam, als ihr von einem ,Schatz' spracht, in den Sinn: Was würdet ihr wohl tun, wenn ihr einen ganzen Krug voller Gold fändet?«
»Ich würde ein elektrisches Hebewerk bauen und das Wasser aus dem Sewan auf den Berg heben und von dort durch Kanäle auf unsere Kolchosfelder leiten... Wie würden dann unsere Saaten aufleben!« schwärmte Armjon.
»Ich würde tausend Kälber und tausend Bienenstöcke kaufen und würde die Kolchosherde vergrößern und eine große Imkerei einrichten«, erklärte Grikor.
Zur Verwunderung der Kinder zeigte der Großvater keinerlei Freude über ihre Antworten.
Dennoch kamen sie in guter Stimmung zu Hause an. Nur eines bedrückte sie und dämpfte ihre Freude: sie hatten noch immer kein Wasser gefunden, und die Dürre hielt an...
Der ,Faulpelz’ Seto
Während er seine Ränke gegen die Geflügelfarm schmiedete, wurde Seto von geheimen Gewissensbissen gequält. Asmik, die bis jetzt alle Streiche Setos geduldig ertragen hatte, beschloß eines Tages, sich beim Kolchosvorsitzenden über ihn zu beklagen.
»Onkel Bagrat, bringe du Seto zur Vernunft! Immerzu treibt er sich auf dem Geflügelhof herum; er verspottet und beschimpft mich...«
Bagrat ließ Seto zu sich rufen.
»Weißt du was?« sagte er und zog seine buschigen Augenbrauen böse zusammen. »Ich bin kein Lehrer und kenne mich in den Erziehungsmethoden nicht aus. Ich kenne nur eines — Disziplin! «
Der Kolchosvorsitzende schlug dröhnend mit der Faust auf den Tisch. »Ich werde dir das Fell gerben, Freundchen. .. Was denkst du dir eigentlich? Das ist ja die reine Anarchie. Schreibe an den Staatsanwalt«, sagte Bagrat zu seinem Bürogehilfen, »daß Seto Martirosjan dem Kolchos Schaden zufügt. Ich werde diesem Burschen das Fell versohlen, daß ihm Hören und Sehen vergehen wird...«
Als Asmik am Abend davon erfuhr, lief sie zum Vorsitzenden und bat ihn, die Sache nicht an den Staatsanwalt weiterzuleiten.
»Wir haben uns was ausgedacht«, sagte sie. »Wir wollen es erst mal damit versuchen. Wenn das allerdings nichts nützt, dann... «
»Gut, warten wir noch ab«, willigte Bagrat ein und strich Asmik über das Haar.
Bereits am nächsten Tage beschloß der unverbesserliche Seto, Asmik einen neuen Streich zu spielen. Nun erst recht! dachte er bei sich.
Sein jüngerer Bruder folgte ihm nur ungern; denn er war im Grunde genommen nicht so schlecht wie Seto.
»Mir ist alles gleich«, stachelte Seto den kleineren auf, »wenn. ich doch ins Gefängnis soll, dann wollen wir uns wenigstens vorher noch mal gründlich austoben.«
Aber Arto wollte nicht:
»Nein, nein, wenn wir Großvater Assatur in den Weg laufen, geht es uns schlecht.«
»Du bist ein richtiger Angsthase«, spottete Seto.
In diesem Augenblick tauchten Kamo und Asmik am Ende der Straße auf.
Seto wollte sich wegschleichen, wurde aber von Kamo angerufen: