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»Warte, Seto, wir wollen mit dir reden!«

Seto blieb unschlüssig stehen. Er war sich so vieler Untaten bewußt, daß er eine Abrechnung mit Kamo und seinen Freun-n fürchtete und ihnen immer gern aus dem Wege ging. »Was willst du von mir?« fragte er daher mißtrauisch. »Hab keine Angst und komm her, ich will dir nur was sagen.« »Du kannst es mir auch von weitem sagen«, widersetzte sich Seto und blickte sich um, wohin er entschlüpfen könnte.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, wiederholte Kamo. Er wandte sich zu Asmik und flüsterte:

»Komm, wir wollen ihm gut zureden.«

Seto rührte sich nicht vom Fleck. Er kam nicht näher, lief aber auch nicht davon.

Kamo trat auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte freundlich:

»Paß auf, Seto, der Streit muß aufhören.«

Seto, der auf die üblichen Vorwürfe gerechnet hatte, blickte finster und verstockt zu Boden. Er war von Kamos freundlichem Ton überrascht, konnte sein Mißtrauen aber noch nicht überwinden.

»Weshalb willst du dich mit Mutwillen ins Verderben stürzen?« fuhr Kamo fort.

»Das nützt doch jetzt alles nichts mehr«, erwiderte Seto mürrisch. »Onkel Bagrat hat an den Staatsanwalt geschrieben, und ich muß euretwegen vors Gericht.«

Nun mischte sich Asmik ein:

»Wenn Onkel Bagrat auch geschimpft hat, er hat doch ein gutes Herz. Und wenn du deine Streiche bereust, wird er dir sicher verzeihen.«

»Ich kann doch nur Schlechtes tun«, erklärte Seto verstockt. »Ihr sagt ja selbst, daß ich heimtückisch und schlecht bin.« Kamo fragte:

»Warum machst du denn solche dummen Streiche?« »Euch zum Trotz«, anwortete Seto verbissen.

»Warum hast du nur solch einen Groll auf uns? Die Geschichte mit dem Buch damals hast du dir doch selber eingebrockt. «

Kamo spielte auf einen Vorfall an, der zu dem Bruch zwischen den Kameraden geführt hatte. Er lag schon einige Zeit zurück, als die Kinder noch in der siebenten Schulklasse waren. Seto hatte damals neben Armjon gesessen, und beide galten als ausgezeichnete Schüler. Es war auch allgemein bekannt, daß beide fleißig von der Schulbibliothek Gebrauch machten. Seto hatte ihr eines Tages Fersmans ,Verständliche Mineralogie' entnommen, ein neues, dickes Werk in einem roten Einband. Nach einiger Zeit forderte Georg Akopowitsch, der die Bibliothek verwaltete, Seto auf, das Buch zurückzubringen, was er jedoch nicht tat. Erst nach wiederholter dringender Aufforderung brachte es Seto endlich mit.

Als Seto in die Bibliothek kam, war Georg Akopowitsch gerade damit beschäftigt, den Schülern der ersten Klasse Bücher umzutauschen. Die Kinder drängten sich um den Tisch und machten einen gewaltigen Lärm.

Georg Akopowitsch sagte zu Seto, er möge das Buch dalassen und ein andermal ein neues holen. Seto legte das Buch auf den Tisch, nahm es dann aber unbemerkt wieder an sich und verbarg es unter seiner Bluse.

Am nächsten Tage wurde das Buch in der ganzen Schule gesucht. Alle Schüler wurden befragt, ausgenommen Seto, der an diesem Tage nicht zur Schule gekommen war.

Hierauf schrieb Georg Akopowitsch einen Zettel an Seto und bat Asmik, ihn dem Jungen zu geben.

Setos Mutter empfing das Mädchen unfreundlich.

»Was willst du von Seto? Seto ist noch in der Schule. Ein Buch verlangt der Lehrer? Nimm sie alle mit! — Nur Ärger habe ich mit dem Bengel, er hilft mir nicht mehr im Hause, immer liest er, und er ist doch schon ein großer Junge.«

Als Asmik zwischen den anderen Büchern die ,Verständliche Mineralogie' erblickte, nahm sie das Buch an sich und sagte:

»Tante Sona, dies ist das Buch, das ich holen soll.«

Auf diese Weise also war Seto in der Schule zu seinem schlechten Ruf gekommen.

Seto blieb eine ganze Woche der Schule fern, so daß sich Georg Akopowitsch schließlich einschalten mußte. Er klärte Seto darüber auf, daß seine Handlungsweise zwar sehr verwerflich sei, daß er aber trotzdem in die Schule kommen müsse.

Seto bekam einen Verweis — einmal als Schüler und zum anderen als Pionier, und zwar sowohl wegen des Buches als auch wegen seines Fernbleibens von der Schule.

Von Stunde an war Seto wie verwandelt. Er hörte nicht mehr auf das, was der Lehrer sagte, sondern hatte während des Unterrichts andere Dinge im Kopf und rutschte dadurch langsam auf die letzte Bank. Erst zum Schluß des Unterrichts wurde er meist lebhaft und verschwand aus der Schule, sobald die Glocke ertönte.

Nachdenklich stand Seto jetzt vor seinen Schulkameraden, die er so lange als seine ,Gegner' betrachtet hatte. Ihr freundliches Wesen hatte ihn nun doch entwaffnet.

»Mach doch mit uns mit, Seto«, sagte Kamo in warmherzigem Ton. »Wir haben so viele Dinge vor, über die alle Welt noch einmal staunen wird! Wir wollen ja gut Freund mit dir sein, auch Asmik, der du so manchen Schabernack gespielt und die du so oft zum Weinen gebracht hast.«

Asmik lächelte gutmütig und zeigte dabei ihre kleinen weißen Zähne.

»Es ist wirklich schade um dich, Seto, du bist doch so ein guter Junge. . .«, rief Kamo.

»Ja«, fiel Asmik ein, »und Seto ist mutig. Er klettert auf die steilsten Felsen und hat überhaupt keine Angst.«

Offenbar hatte Asmik bei Seto eine empfindliche Stelle berührt; sie schmeichelte ihm.

»Was habt ihr denn auf den Felsen zu suchen?« fragt er, diesmal schon in ganz friedfertigem Ton.

»Du weißt doch, daß wir das Bett eines alten Kanals gefunden haben, und jetzt wollen wir rauskriegen, wo der her-stammt und wohin das Wasser verschwunden ist«, erklärte Armjon, der inzwischen hinzugekommen war. »Dabei müssen wir doch auf die Schwarzen Felsen steigen, so wie wir erst vor kurzem auf den Tschantschakar geklettert sind und dort die wilden Bienen entdeckt haben. Und dann müssen wir das Geheimnis des Gilli-Sees klären, auch das Geheimnis der ,Höllenpforte' müssen wir rausbekommen. Wir wollen wissen, wer im Innern des Berges so unheimlich stöhnt.«

»Und du fehlst uns dabei, Seto«, fügte Kamo hinzu. »Laß uns doch endlich mit der Feindschaft Schluß machen.« Er streckte Seto die Hand hin.

Das Fünkchen, das in Setos Herzen glomm, wurde plötzlich zur hellen Flamme. Es ging eine Wandlung mit ihm vor. Er fühlte, daß er ein anderer geworden war. Er drückte die Hand, die Kamo ihm entgegenhielt, und reichte dem Kameraden Pfeil und Bogen.

»Nimm das«, sagte er, »der Krieg zwischen uns ist aus.«

Arto, der sich abseits gehalten und den ganzen Vorgang beobachtet hatte, verzog das Gesicht zu einem breiten, gutmütigen Grinsen.

Kräftig schüttelten sich die Jungen die Hände, und alle waren zufrieden, daß das Kriegsbeil endlich begraben war.

»Wenn wir zusammenhalten, können wir noch mehr fertig-bringen«, sagte Kamo erleichtert.

In diesem Augenblick kam Grikor aus der Vogelfarm herbeigelaufen. Er hatte die Brutöfen beaufsichtigt.

»Die letzten Schalen sind geplatzt«, schrie er. »Küken in allen Farben marschieren auf — ganze Regimenter, kleine und große, gelbe und bunte, alles durcheinander... Das haben sie fein gemacht, unsere eisernen Glucken — sie überschwemmen alles mit Küken!« Und Grikor hüpfte vergnügt auf seinem gesunden Bein zur Farm zurück.

Asmik, Armjon und Kamo liefen, von Seto und Arto gefolgt, zum Stall.

Es war das erste Mal, daß Seto ohne schlechte Absichten die Geflügelfarm betrat. Aus dem Feind war ein Freund geworden.

Diese zweite Brut in der Versuchsfarm versetzte die Kinder durch das gute Ergebnis in wahre Begeisterung.

»Das sind unsere Küken«, riefen sie aus. »das ist unsere Farm.. .«

Als Seto am nächsten Morgen erwachte, war er so fröhlich und unbeschwert wie lange nicht. Sonst war er beim Aufwachen oft so bedrückt und mißmutig gewesen. Nun war alles ganz anders.

Was bedeutet das, was ist mit mir geschehen? Weshalb bin ich so froh gestimmt? dachte Seto. Da fiel ihm plötzlich der gestrige Tag ein. Ungestüm sprang er aus dem Bett.