»Das sind ja Hirngespinste«, widersprach Grikor, dem ein kurzes Bad in dem kalten Bergwasser genügt hatte. »Überlegt doch mal, wo liegt dieser See, und wo ist der Gilli-See?«
»Das sind gar keine Hirngespinste«, mischte sich Armjon ein. »Du mußt dir mal vorstellen, wieviel Wasser ununterbrochen in den Bergsee fließt. Von hier aus sehen wir einen, zwei, drei, vier Bergbäche. Dazu kommt noch das Regenwasser und das Schmelzwasser von dem vielen Schnee, der auf den Bergen taut.«
»Ja«, rief Kamo, »und dabei steigt der Wasserspiegel nicht wesentlich. Das Becken könnte doch die Wassermassen gar nicht fassen.«
»Vielleicht verdunstet es?« meinte Asmik.
»Nein«, Aschot Stepanowitsch schüttelte den Kopf, »dazu ist es hier oben viel zu kalt. Das Wasser muß an irgendeiner Stelle absickern. Das steht fest. Sonst würde es den See bis an den Rand füllen, aus seinen Ufern treten und alles überschwemmen. Aus allen Seen Armeniens fließt das Wasser in größere oder kleinere Flüsse ab. Das trifft auch für unseren Sewan zu und ebenso für den See auf dem Alagös, den Aiger-Litsch-See, den Arpa-See, den Ganly-Göl-See auf dem Gipfel des Acha-achan sowie für den See auf dem Kapudjik. Wir haben alle diese Seen selber untersucht. und alle haben sie einen Abfluß. In der Natur gibt es eine gewisse Gesetzmäßigkeit. Wenn dieser See keinen Abfluß hat, dann ist die Gesetzmäßigkeit aus irgendeinem Grunde verletzt, und diesen Grund müssen wir herausfinden. Kamo hat recht. Wir wollen gleich damit anfangen. — Ich schwimme auch nicht schlecht. . . «
Der Großvater hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt. Er beobachtete den Bergrücken, auf dem vorhin die Wildschafe gestanden hatten. Als alter Jäger wußte er, daß sie einen Kundschafter schicken würden, der das Treiben der verdächtigen zweibeinigen Eindringlinge verfolgen sollte. Es war für die Tiere eine sehr wichtige Frage, denn davon hing es ab, ob sie in diesem Teil des Gebirges bleiben könnten oder sich andere, entferntere Weideplätze suchen müßten.
»Zieht eure Kleider aus«, sagte Aschot Stepanowitsch zu den Jungen. »Wir wollen inzwischen unsere Untersuchungen zu Ende bringen.« Beide Geologen kletterten auf eine gegenüberliegende Bergkuppe, auf der größere und kleinere Felsblöcke umherlagen.
»Wir wollen unsere jungen Freunde selbständig handeln lassen und sie möglichst nur beraten«, sagte Aschot Stepanowitsch zu seinem Kollegen. »Kannst du dich noch auf das Gespräch besinnen, das wir am Tage unserer Ankunft mit Aram Michailowitsch hatten? Du merkst ja, daß ich schon immer versuche, mich abseits zu halten, um den jungen Menschen die Initiative zu überlassen. Sie haben das ganze Unternehmen erst in Gang gebracht. Sie sollen auch den Ruhm ernten. Wir werden uns nur in äußersten Fällen einschalten, wenn sie Fehler machen.«
»Du hast recht. Sie sind auf dem richtigen Wege und werden schon selber merken, was getan werden muß. — Diese Steine stammen übrigens von einem Ausbruch des Vulkans. Gib mal den Hammer her, wir wollen sehen, was damit los ist.«
Und die Geologen machten sich an ihre Arbeit.
Unten am See hatte Kamo die Führung übernommen. Er trieb die Freunde an:
»Nun zeig mal, daß du der Sohn eines Fischers bist, Seto! « Der Junge war oft noch sehr verlegen, besonders Asmik gegenüber...
Er stammelte:
»Ihr werdet sehen, daß ich auch was leisten kann...«
Asmik verstand ihn gleich und lächelte ihm aufmunternd zu. Grikor konnte es nicht lassen, ihn zu necken:
»Früher hast du dir Asmiks fette Enten geklaut. Jetzt hol dir welche aus dem See.«
Seto sah schuldbewußt und verlegen zur Erde.
Der Großvater hatte das Ende des lustigen Streits mit angehört und rief:
»Du hast also damals in der Tonne gesessen!. . . «
Kamo, der Angst hatte, Seto könnte mutlos werden, rief schnell dazwischen:
»Das ist alles vergeben und vergessen. Den früheren Seto gibt es gar nicht mehr.«
Aber Großvater Assatur war nicht so leicht zu beschwichtigen.
»Was gewesen ist, ist gewesen — das stimmt«, rief er. »Aber Seto soll uns mal erzählen, wie er das damals mit den Enten gemacht hat. Ihr habt es nicht gesehen, aber ich hab' gesehen, wie das Entlein die Flügel spreizte, den Hals vorstreckte, den Schnabel aufsperrte und auf die Tonne zusegelte, als ob es von einer unsichtbaren Hand gezogen würde... Wie hast du das gemacht, Seto? Verrate uns das Geheimnis! Ich kenne doch die Wildvögel und alle ihre Gewohnheiten, so ein Hokuspokus ist mir mein Lebtag noch nicht vorgekommen... Was hast du eigentlich mit den Küken gemacht? Du hast sie ja dutzend-weise beiseite geschafft. Du kannst sie doch nicht alle auf-gegessen haben!«
Seto wäre am liebsten in den Erdboden gesunken, so schämte er sich. Er war bis über die Ohren rot geworden und ließ den Kopf hängen.
»Seto, du kannst uns das jetzt ruhig erzählen, es ist ja alles vorbei«, ermunterte ihn Kamo.
Unter allgemeinem Gelächter berichtete Seto nun, immer noch zögernd:
»Es war gar kein Hokuspokus, ich saß in der Tonne und hatte eine Rolle Zwirn in der Hand, daran zog ich die jungen Vögel zu mir heran. Von weitem kann man den Faden nicht sehen, und darum hatte es den Anschein, als würden sie von einer unsichtbaren Hand angezogen.«
»Am Zwirn hast du gezogen? Wie sind sie denn aber an den Zwirn gekommen? «
»Ganz einfach, man bindet einen Köder an den Faden und wirft ihn durch eine Zaunritze. Die kleine Gans oder Ente verschluckt ihn und damit das Ende des Fadens. Das andere Ende hält der, der in der Tonne sitzt, in der Hand. Wenn man dann den Faden anzieht, spreizt der Vogel eben die Flügel und segelt geradewegs auf die Tonne zu...«
»Und was hast du dann mit den Tieren gemacht?«
»Ich habe sie mit meinem Bruder zum Gilli-See gebracht und wieder ausgesetzt... Wir haben euch das doch zum Trotz getan«, sagte Seto und wurde noch verlegener. »Die Gänslein und Entlein freuten sich, sie hatten ihre Freiheit wieder.
..« »Und du hast keines aufgegessen?« staunte Grikor.
»Kein einziges.. . Ehrenwort!«
Die Kinder lachten vergnügt.
»Und ihr habt immer was gegen meine Pfeife«, nahm der Alte wieder das Wort. »Wißt ihr auch, daß durch diese Pfeife alles herausgekommen ist?«
»Wieso denn das?« fragte Asmik erstaunt.
»Sehr einfach, hätte ich nicht mit der Pfeife gegen die Tonne geklopft, dann hätte sich Seto auch nicht gerührt.«
»Das stimmt«, bestätigte Seto. »Arto und ich hatten verabredet: wer zuerst merkt, daß die Luft rein ist, der klopft gegen die Tonne.«
Alle lachten laut und fröhlich, auch Seto lachte mit.
»Wartet noch mit dem Ausziehen, Kinder«, sagte der Großvater, »ich werde euch noch was erzählen. Ein ganz ähnlicher Fall hat sich vor sieben oder acht Jahrhunderten auf der Insel, die im Sewan liegt, zugetragen. Mir hat es mein Großvater erzählt, und der wieder hatte es von seinem Großvater und so fort... In Armenien waren damals fremde Eroberer eingedrungen. Ich weiß nicht mehr, ob es Seldschuken oder Mongolen waren. Sie hatten das Land erobert und sich überall breit-gemacht; nur die Insel im Sewan konnten und konnten sie nicht nehmen. Wie sollten sie auch? Wenn die Fremdlinge versuchten, auf dem Wasser heranzukommen, wurden von der Felseninsel Steine auf sie geschleudert, und sie ertranken. Wie könnte man durch eine List die Insel an sich bringen? überlegten sie, und sie schmiedeten einen Plan. In jedem Volk findet sich unter vielen Tausenden auch ein Schurke, ein Verräter. So machten auch sie einen habgierigen armenischen Händler ausfindig. Sie versprachen ihm Berge von Gold, und dafür sollte er feindliche Krieger anstatt Waren in Fässern und Kisten auf die Insel bringen. So machten sie es denn auch. Die Fässer, in denen die Krieger mit ihren Waffen saßen, wurden auf Boote geladen und fuhren mit dem Händler zur Insel hinüber. Die Insel aber war schon ein ganzes Jahr lang von den Feinden belagert worden. Natürlich fehlte es den Menschen an allem: an Lebensmitteln, an Kleidung; und sie empfingen den Händler mit Freuden. Die Fässer und Kisten wurden ausgeladen, in das Kloster gebracht und im Keller aufgestapelt. Wer hätte ahnen können, daß sie keine Waren, sondern bewaffnete Krieger bargen?... Da gab es aber einen Burschen, der muß mit Seto Ähnlichkeit gehabt haben; der lernte seine Aufgaben nicht und trieb allerhand Unfug. Der Bischof sperrte ihn in den Keller ein. ,Bevor du die Aufgaben nicht wie am Schnürchen hersagen kannst, lasse ich dich nicht wieder raus', sagte er zu ihm. So saß dieser Bursche im Keller und versuchte zu lernen. Aber es wurde ihm zu langweilig. — Da fing er an, auf ein Faß zu hämmern wie auf eine Trommel. Plötzlich hörte er aus dem Faß eine Stimme: ,Gasan, wachty dy?' (,Ist es soweit, Gasan?') Der junge floh entsetzt aus dem Keller und lief schnurstracks zum Bischof. Die Männer auf der Insel stürzten sofort in den Keller und warfen die Fässer und Kisten ins Wasser, ohne sie aufzumachen. Der verräterische Händler aber wurde am Galgen aufgeknüpft ... Ja, so geht es ... Aus Langerweile hat er gegen das Faß getrommelt und dadurch die Insel gerettet. — Ich hab' meine Pfeife am Faß ausgeklopft und dadurch die Farm gerettet«, schloß der Großvater seine Erzählung und lächelte Seto freundlich zu. Asmik klatschte in die Hände.