Der Alte sog einige Male an seiner Pfeife und hüllte sich in graue Rauchwolken.
Kamo lächelte: »Großväterchen, erzähle Asmik noch mehr davon. Wir wollen jetzt an die Arbeit gehen.«
»Gott sei mit euch!« sagte der Alte und bekreuzigte sich. »Ich würde es nicht erlauben, aber wenn der Lehrer es zuläßt... Er muß ja wissen, was er tut - er ist ein kluger Mensch. Vielleicht ist es auch gar nicht die Hölle?« Zu Asmik gewandt, fuhr der Alte fort: »Auf dem Tschantschakar waren ja auch keine bösen Geister. Wer will wissen, was in dem Berg so zischt und rauscht. Ich denke immer: Sicher ist es das Herz des Dali-Dagh, das dort schlägt, und das Blut des Berges, das durch seine Adern fließt. Hat denn der Dali-Dagh kein Leben? Hat er nicht schon oft über die Menschen gezürnt und mit Donnern und Krachen Feuer und Rauch ausgespien? Was denkst du darüber, Töchterchen? Gibt es vielleicht gar keine Hölle?« Asmik konnte sich das Lachen kaum verbeißen. Der Großvater aber war ganz ernst und machte ein nachdenkliches Gesicht. Für ihn war das offensichtlich keine ganz einfache Frage.
»Wie kann es denn eine Hölle geben, Großväterchen? Sprichst du im Ernst?... Komm, wir wollen lieber von hier weggehen, es fängt an zu regnen — sieh mal, was für Wolken aufziehen! Stellen wir uns lieber unter den Felsvorsprung, der Baum bietet nicht genug Schutz.«
Leise rauschte der Regen auf das Blätterdach. Der Alte setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm. Nachdenklich sog er an seiner längst ausgegangenen Pfeife. Durch das Blätterdach sickerte der Regen, und dicke Tropfen schlugen sanft auf die Steine und wurden rasch von der ausgedörrten Erde aufgesogen.
»Komm, Großväterchen! Wir werden ganz naß! Komm hier weg«, drängte Asmik.
»Laß mich noch ein wenig sitzen, Asmik! Wie viele Jahre ist es her, daß ich im Regen unter einem Baum gesessen habe...
Was meinst du - ob in der Höhle Wasser ist?...« wollte der Alte das unterbrochene Gespräch fortsetzen, als ganz in der Nähe ein Blitz herabzuckte. Im gleichen Augenblick krachte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. »Na ja!« rief der Großvater erschrocken, »beim Gewitter ist es gefährlich unter einem Baum, und noch dazu unter einer Eiche«, und er eilte hinter Asmik her, die schon unter dem Felsvorsprung Schutz gesucht hatte.
Gleichzeitig mit dem Donnerschlag krachte es über ihnen in der ,Höllenpforte', und kurz darauf noch ein zweites Mal.
Die vom Schwarzen Meer heranziehenden Gewitterwolken hatten sich über dem Sewan zusammengezogen.
Düster und schwer hingen sie wie ein dunkler, undurchdringlicher Schleier über dem Wasser. Wie aufgeregt flatternde Möwen sahen die weißen Schaumkronen der Wellen aus, die der Wind vor sich hertrieb.
Angenehme Kühle verdrängte die Hitze des Tages, und die in der erbarmungslosen Sonnenglut erschlafften Pflanzen lebten wieder auf.
»Regen! Endlich Regen!« riefen sich die Kolchosbauern auf den Feldern zu.
»Wenn er sich doch nur über die durstenden, verdorrenden Felder ergießen wollte!«
Die Mähmaschinen auf den Uferwiesen des Gilli-Sees blieben stehen. Der Gruppenführer Owsep hatte befohlen, das Mähen einzustellen.
»Sonst verdirbt der Regen das Gras«, schrie er. »Warten wir, bis er vorüber ist!« Dann fragte er: »Werden wir das Heu, das schon trocken ist, vor dem Regen noch in Sicherheit bringen?«
»Warum erst lange fragen, das kostet nur Zeit!« rief ein junger Kolchosarbeiter. »Los, Kameraden, hurtig! «
Und alle griffen nach Rechen und Gabeln.
Während das Heu eilig zusammengeharkt wurde, warfen die Frauen immer wieder einen Blick zum Himmel hinauf. Daß der Regen sie selber oder das Heu durchnässen konnte, machte ihnen keine Sorge. Sie würden schon wieder trocken werden und das Heu ebenfalls. Wenn nur die Wolken sich nicht verzogen! Wenn der Regen nur nicht über dem See niederging und die Felder von Litschk bekamen nichts ab von dem nassen Segen!
Noch war keine Viertelstunde vergangen, da standen die Uferwiesen voller Heuhaufen. Doch auch das Gewitter entlud sich, wie fast alle, über dem Sewan. Die Wolken brachten ihre kostbare Last nicht bis zu den Feldern des Dorfes Litschk, sondern luden sie über dem See ab... »Weitermähen!« rief der Gruppenführer Owsep mißmutig.
Ratternd setzten sich die Mähmaschinen in Bewegung. Die Mäher schwangen ihre Sensen, und das geschnittene Gras bedeckte in langen dunklen Reihen die Uferwiesen.
In den Bergen krachte der Donner, und das Echo vermischte sich mit den Sprengungen im Inneren der Schwarzen Felsen.
»Wasser, Wasser!«
Von unten an die Höhle heranzukommen erwies sich als unmöglich. Wie bei der Besteigung des Tschantschakar mußten die jungen Forscher den Gipfel der Schwarzen Felsen von der Rückseite her erklimmen. Von oben war der vorgeschobene Felsenrand vor der Höhle gut zu sehen. Er war glatt und glänzend, als sei er poliert worden. Von hier fiel der Berg nicht sehr steil ab, und wenn man sich an den vorspringenden Fels-kanten festhielt, konnte man bis zur Höhle hinuntersteigen. Auf diese Weise war, wie der Großvater erzählt hatte, sein Gevatter Mukel zu dem Eingang gelangt. Noch leichter war es jedoch, mit Hilfe einer Strickleiter nach unten zu kommen.
Nachdem die Freunde das Ende der Strickleiter sorgfältig an einem Felsblock befestigt hatten, ließen sie sie nach unten gleiten. Als erster stieg Kamo hinab. An dem glatten, vorspringenden Rand der Höhle angelangt, blieb er stehen und sah sich um. Unterhalb des Höhleneingangs fiel die Felswand steil in die Tiefe ab, und vor ihm gähnte ein schwindelerregender Abgrund.
Armjon, Grikor und Seto kletterten hinter Kamo her. Als letzter folgte Aschot Stepanowitsch.
Feuchte, kalte Luft schlug ihnen am Höhleneingang entgegen und ließ sie fröstelnd zusammenschauern. Aus der Tiefe drangen dumpfe, klagende Laute zu ihnen empor.
Armjon und Seto nahmen ihre Taschenlampen zur Hand. Die dünnen Lichtstrahlen huschten über feuchte Wände und in finstere Winkel. Die Höhle war sehr breit und offenbar ziemlich tief.
»Leuchte doch mal!« bat Kamo und bückte sich; er hob das Gerippe eines kleinen Fisches auf.
»Ein Fisch?« staunte Armjon. »Laß sehen!«
Beim Schein der Taschenlampe betrachteten die Jungen aufmerksam ihren Fund. Das Gerippe, das schon sehr lange Zeit auf einem trockenen Stein mitten in der Höhle gelegen haben mochte, war gut erhalten und fast unversehrt.
»Ist es denn möglich, daß hier einmal das Meer gewesen ist«, sagte Kamo.
Armjon sah den Geologen fragend an.
»Nein, die Schwarzen Felsen bestehen aus Granit«, antwortete Aschot Stepanowitsch, »und Granit bildet sich nicht im Meer... Mit dem Fisch muß es eine andere Bewandtnis haben...«
Der junge Geologe hatte eine frohe und sehr zuversichtliche Stimme, als er dies sagte.
Sie kehrten zum Ausgang der Höhle zurück und blieben, vom grellen Tageslicht geblendet, eine Weile stehen.
»Wie glatt poliert der Stein ist«, meinte der Geologe, indem er nachdenklich auf den steil abfallenden Felsen blickte. »Das ist mir sofort aufgefallen«, sagte Armjon, »und darauf stützen sich ja auch alle meine Hoffnungen.« Er blickte den Geologen fragend an.
»Du bist auf dem richtigen Weg... Kannst du mir denn auch erklären, was das bedeutet?«
»Ja, gewiß. Und das kleine Fischskelett bestätigt, daß meine Vermutungen richtig sind«, sagte Armjon, ohne zu zögern.
»Es besteht keinerlei Zweifel mehr, wir können ohne Bedenken vorgehen«, sagte Aschot Stepanowitsch.
»Hat denn dieses Fischchen irgend etwas mit der Glätte des Felsens zu tun?« fragte Kamo zweifelnd.
»Unbedingt hat es das. Beide haben die gleiche Ursache.« Diese geheimnisvollen und ihm ganz unverständlichen orte des Geologen steigerten Kamos Ungeduld noch. Arinjon, der merkte, wie neugierig Kamo war, sagte: »Weißt du, was Aram Michailowitsch und auch ich ganz fest glauben?«