»Verlaßt alle das Zimmer!« ordnete er an. »Nur Aram Michailowitsch bleibt hier, und du, Anaid, und Schuschan, ihr werdet mir helfen.«
Widerstrebend fügten sich die Nachbarn.
»Anaid, mach das Fenster auf! Weiter! So... Bringe Wasser... Schuschan, lauf in die Verwaltung und hole die Hilfsapotheke! Beeil dich... Aschot, hilf Aram... Aram, du weißt doch, wie man Wiederbelebungsversuche machen muß. «
Aram Michailowitsch nickte stumm, zog seinen Rock aus und rollte die Hemdsärmel hoch.
»Ach, wenn ich nur dabeigewesen wäre, es wäre nicht passiert«, jammerte er. »Kamo hätte auf mich gehört...«
Schuschan kam mit der Hausapotheke. Im Zimmer verbreitete sich der scharfe Geruch von Salmiakgeist.
Der Großvater Assatur trat ein. Er hatte sich nicht zurückhalten lassen. Sein Bart war zerzaust, seine Kleidung zerknittert. Mit einer kläglichen, zitternden Greisenstimme flehte er den Lehrer an:
»Aram, Teurer, bei deinem Seelenheil, bei allem, was dir heilig ist, bitte ich dich: Telefoniere nach Jerewan, durch das Radio gib Nachricht — man soll Ärzte, Gelehrte schicken, damit sie meinen Enkel retten!«
»Beruhige dich, Großväterchen! Einen Arzt haben wir auch hier, er ist nur gerade unterwegs, wird aber bald zurück sein. Wir werden uns vorläufig auch ohne ihn behelfen. Hast du Vertrauen zu uns und der Wissenschaft?«
»Gewiß doch hab' ich Vertrauen, wie sollte ich nicht ...«
»Nun, dann mußt du auch Geduld haben, wenn du Vertrauen hast. Laß uns jetzt machen. Dein Enkel lebt und wird auch am Leben bleiben. Er hat nur das Bewußtsein verloren, ist vielleicht betäubt vom Geruch des Sprengstoffs oder von dem Luftdruck ohnmächtig geworden. Sei unbesorgt, man kann dreißig Stunden bewußtlos sein und muß deswegen nicht sterben. «
Seto und Armjon versuchten draußen im Hof Asmik zu trösten. Sie schluchzte laut und wischte sich immer wieder das tränennasse Gesicht. Ihre Augen waren vom Weinen rot und geschwollen.
Grikor hatte am Tor einen Streit mit Mesrop.
»Was faselst du da? Was du immer für Dummheiten redest!« schrie er ihn an. »Da sind keine Teufel in dem Berg. Das ist Wasser, verstehst du? Es rauscht und zischt. Morgen gehe ich hin und sorge dafür, daß es bis ins Dorf fließt. Aber dir werde ich keinen einzigen Tropfen geben - du kannst umkommen vor Durst... Kamo hat Pech gehabt, durch seine eigene Unvorsichtigkeit! Du aber tuschelst: ,Der Teufel hat ihn bestraft. . .' Hör endlich damit auf, den Leuten den Kopf zu verdrehen!«
»Wer sagt denn, daß es nicht Wasser ist?« erwiderte Mesrop kleinlaut. »Weshalb regst du dich auf?« Und er schlich davon.
Als die jungen Freunde auf die Straße hinaustraten, kam ihnen der neidische Artusch entgegen. Er hatte von Kamos Unfall erfahren und hielt den Kopf gesenkt.
»Was willst du?« fragte Grikor unfreundlich. »Weshalb heuchelst du, daß Kamo dir leid tut?«
Aber Artusch schlug die Augen auf. Und nun sahen Grikor und Armjon, daß sie ihm Unrecht getan hatten, denn der Junge sah ehrlich bekümmert aus und hatte wahrhaftig Tränen in den Augen.
»Seid mir nicht böse!« sagte Artusch. »Ich habe mich schlecht benommen. Um Kamos willen verzeiht mir.« Armjon reichte ihm als erster die Hand.
»Jetzt ist nicht der Augenblick, um lange zu reden. Wir müssen gehen... Du, Seto, bleibe bei Asmik« , sagte er und ging in den Hof zurück.
Die Wiederbelebungsversuche hatten endlich Erfolg.
Der Lehrer, der sehr blaß geworden war, bekam ein wenig Farbe, und seine Züge hellten sich auf.
»Lebt er?« fragte Bagrat.
»Er lebt und atmet, aber noch ganz schwach...«
Diese Nachricht verbreitete sich sofort im Hof, und Asmik rief:
»Ach bitte, laßt mich zu Kamo! «
Aber Bagrat drohte ihr durch das Fenster mit dem Finger. Er lachte dabei aber gutmütig.
Allen war, als sei ihnen ein Stein von der Seele genommen.
Grikor stand ein wenig abseits, dicke Tränen liefen über seine Wangen, aber selbst in diesem Augenblick konnte seine vorwitzige Zunge nicht schweigen:
»Ich weiß schon - Kamo hat sich absichtlich tot gestellt, da-mit er uns nur noch lieber wird«, sagte er.
Alle lachten, wenn auch nicht so sehr über Grikors Scherz als aus Freude darüber, daß der junge am Leben war.
Asmik konnte sich nicht länger beherrschen; ungeachtet des Verbots kam sie ins Zimmer gelaufen.
Kamo hatte eben die Augen aufgeschlagen - er sah seine kleine Freundin. Sie drehte sich um, warf sich Bagrat an die Brust und fing wieder an zu weinen.
»Beruhige dich doch, Töchterchen, alles ist wieder gut, alles ist vorüber«, sagte Bagrat, indem er zärtlich über das kastanienbraune Haar des Mädchens strich. Er konnte seiner Rührung selber kaum Herr werden.
Kamos Mutter kam aus dem Nebenzimmer herein. Sie kniete neben dem Lager des Sohnes nieder und brach in Tränen aus. Aber es waren Tränen der Freude, wie sie nur eine Mutter vergießen kann, wenn sie ihr geliebtes Kind gerettet weiß.
Mit unnatürlich weit aufgerissenen Augen sah Kamo die Anwesenden verständnislos an; er begriff nichts...
»Na, bist ja wieder munter, mein Junge«, rief der Großvater und murmelte etwas Unverständliches. Dabei sah er recht ratlos aus.
»Was bedrückt dich, Großväterchen?« fragte ihn Aram Michailowitsch. »Du siehst doch, alles ist wieder gut, dein Enkel lebt. «
Der Großvater schien sich etwas zu fassen, fuhr aber gleich wieder in seinem sonderbaren Selbstgespräch fort: »Ich, der angesehene Jäger Assatur, stehe an Großmut hinter diesen Kindern zurück? Wenn sie bereit sind, ihr Leben für uns alle zu opfern, wie kann ich dann noch zögern? Bagrat«, wandte sich der Alte unvermittelt an den Vorsitzenden, »das Gold hat mir den Kopf verdreht und mein Herz verfälscht... Ich werde alles herbringen, werde mein Gewissen erleichtern... «
Er stand auf und ging entschlossenen Schrittes zum Zimmer hinaus.
Niemand hatte begriffen, was der Großvater eigentlich wollte.
»Was hat denn unser Alterchen?« fragte Bagrat und zog verwundert die Brauen hoch. »Ist er krank geworden? Von was für Gold redet er denn?«
Auch Aram Michailowitsch zuckte ratlos die Achseln.
Bis zum Hause des Großvaters war es nicht weit. Schon nach wenigen Minuten kam er zurück und trug einen schweren Sack auf der Schulter.
»Hier ist das Gold. Nehmt es und tut damit, was richtig ist«, sagte er, indem er den Sack auf den Boden gleiten ließ. »Breite ein Tuch aus, Töchterchen«, sagte er dann zu Kamos Mutter.
Die Anwesenden tauschten verständnisvolle Blicke und flüsterten miteinander.
»Geh nach Hause«, sagte Bagrat und legte seine Hand auf die Schulter des Alten. »Geh, erhole dich, beruhige dich...«
»Ein Tuch soll her, sage ich!« rief der Großvater ärgerlich. »Ihr meint wohl, der Alte ist übergeschnappt? Breitet ein Tuch aus, damit ich das Gold ausschütten kann.«
Kamos Mutter stand auf und brachte ein Laken.
»Macht Platz!« brummte der Großvater; er legte das Betttuch in die Mitte des Zimmers auf den Boden und schüttete den Inhalt des Sackes aus.
Im ersten Augenblick waren alle erstarrt.
Kostbare, vielfarbig funkelnde Edelsteine, goldene Münzen, Armbänder, Ringe, Halsgeschmeide in Mengen lagen auf dem Fußboden verstreut.
Der Großvater aber stand hoch aufgerichtet neben diesen Schätzen; mit der einen Hand strich er sich den Bart, mit der anderen umklammerte er den Griff seines Dolches. Mit blitzenden Augen sah er die Anwesenden an.
»Nun? Hab' ich's euch nicht gesagt?« rief er. »Da ist das Gold. Ihr habt gedacht: Der Alte ist verrückt geworden. Na, was sagt ihr nun?«
Über all der Aufregung hatte niemand an Kamo gedacht. Er richtete sich plötzlich auf und machte ein sehr erstauntes Gesicht.
»Träume ich?« fragte er und rieb sich die Augen.