»Das stimmt. Ich bin dabeigewesen«, rief der Molkereiverwalter Artjom.
»Nun soll es mir Großvater Assatur nicht übelnehmen, wenn ich einen Vergleich ziehe«, fuhr Aram Michailowitsch fort. »Dort war Gold, und auch hier ist Gold. Es scheint kein Unter-schied zu bestehen. Aber wozu hat das Gold damals gedient, und wozu diente dieses Gold, als es beim Großvater Assatur im Stall lag?«
Der alte Jäger, der mit gesenktem Kopf zugehört hatte, war von dieser Geschichte offenbar tief beeindruckt.
»Ich möchte aber noch auf einen anderen wichtigen Umstand hinweisen«, fuhr der Lehrer fort. »Bei dieser ganzen Sache beunruhigt mich als Sowjetmenschen der Gedanke, wie schlimm es gewesen wäre, wenn im Großvater Assatur das Alte die Oberhand behalten hätte! Was für ein schwerer Verlust wäre es für die sowjetische Wissenschaft gewesen, wenn diese stummen Zeugen aus der Vergangenheit unseres Volkes, seiner Sitten und seiner Kultur wieder verlorengegangen wären, wenn man sie vielleicht heimlich als wertvolles Metall verkauft hätte.« Aram Michailowitsch griff aus dem Haufen der auf dem Fußboden liegenden Wertsachen eine Münze heraus und betrachtete sie: »Auf dieser Münze ist Tigran der Große dar-gestellt. Zu der Zeit, als sie geprägt wurde, war unser Land noch heidnisch. Dies allein ist ein sehr wichtiger und sehr wert-voller Fund für die Wissenschaft. Solche Funde zu verbergen oder zu vernichten, indem man sie einschmilzt — wäre ein Verbrechen... Nun, ich glaube, Großvater Assatur sieht seine Schuld ein. Er hat oft von der ehrlichen Gesinnung seiner Vorfahren gesprochen, er selbst hat viel von dieser Ehrlichkeit. Großvater Assatur muß sich selber die Frage stellen: Wie kann man beim Anblick dieser Kostbarkeiten die Ehre und die Pflicht den anderen gegenüber vergessen?«
Nun nahm wieder Bagrat das Wort.
»Es ist alles gesagt, was zu sagen ist. Wir glauben, daß die Reue des Großvaters tief und aufrichtig ist. Es ist schön, daß sich diese Dinge gefunden haben. Am meisten aber müssen wir uns darüber freuen, daß sich ein Mensch wiedergefunden hat, daß der Großvater Assatur unter dem Einfluß dieser jungen Leute seine Ehrlichkeit wiedergefunden hat!« -Bagrat drückte dem alten Manne die Hand.
Großvater Assatur atmete erleichtert auf. Sein bleiches Gesicht nahm nach und nach wieder seine natürliche Färbung an.
Alle lächelten ihm freundlich zu. Der Alte richtete sich aus seiner gebückten Haltung schwerfällig auf, und seine Augen leuchteten.
Am meisten freuten sich die Kinder über den glücklichen Ausgang dieser schlimmen Geschichte. Sie hingen sehr an ihrem alten guten Großvater, und es hatte ihnen weh getan, ihn so leiden zu sehen.
Der Lehrer sagte:
»Kamo und seine Freunde haben unseren Dank und unsere Anerkennung verdient. Sie waren es, die durch ihren Eifer und ihre Hartnäckigkeit den Schätzen in den Höhlen des Tsdiantschakar auf die Spur gekommen sind. Und sie haben durch ihr Beispiel den Großvater zur Einsicht gebracht.«
Der Alte strahlte. Seiner Gewohnheit gemäß bekreuzigte er sich und umklammerte den Griff seines Dolches. Er hatte sein Selbstbewußtsein wiedergefunden.
»Jetzt will ich auch gerne sterben«, sagte er. Dann schien ihm etwas einzufallen. Er trat an Kamos Lager und sagte: »Habt ihr denn herausgefunden, was in der Höhle so unheimlich zischt und brodelt? Ist es nicht der Teufel, der die Seelen in seinen Kessel steckt?«
»Nein, Großväterchen«, rief Kamo, der inzwischen wieder zu Kräften gekommen war. »Es ist Wasser, das tief in der Erde fließt.«
»Dann war es auch nicht Satael mit seinem Feuerknüppel, der dich niedergeschlagen hat?«
»Wie stellst du dir das vor, Großväterchen?« fragte Kamo erstaunt. »Der Großvater Oganes ist ja auch nicht vom Teufel niedergeschlagen worden; das hast du doch selber gesagt...«
»Wenn ihn der Teufel niedergeschlagen hätte, Großväterchen«, mischte sich Armjon ein, »dann wäre er doch nicht am Leben geblieben!«
»Das ist wahr, denn wer könnte dem Knüppel des Teufels standhalten?« murmelte der Alte. »Es gibt, wie es scheint, gar keine Hölle.«
»Ist das, was man hört, wirklich Wasser?« wollte Artjom wissen.
»Ja. Man hört es ganz deutlich, es plätschert und gluckst. . .«
»Warum hast du uns davon nichts gesagt?« fragte Artjom den Kolchosvorsitzenden.
»Wir wissen ja selber noch nichts Genaues. Aschot Stepanowitsch, erzähle du uns jetzt, was ihr heute erlebt habt. Und wohin ist dein Kollege Suren verschwunden?«
»Suren ist nicht verschwunden«, erwiderte Aschot Stepanowitsch. »Er hat eine sehr wichtige Aufgabe übernommen: es mußte eine Skizze des alten Flußbettes gemacht und auf ihr die Stellen eingezeichnet werden, die neu zementiert werden müssen, damit das Wasser nicht durch die poröse Lava absickert und die Felder nichts von dem Segen bekommen.« Nach diesem Gespräch sandte Bagrat sofort einen Last-wagen in die Bezirksverwaltung des Wasserbauamtes, um Zement holen zu lassen. Er und der Lehrer machten sich gemeinsam auf den Weg zur ,Höllenpforte'. Sie untersuchten die Höhle und stellten fest, daß tatsächlich im Inneren der Felsen ein Wasserlauf mit sehr starker Strömung fließen mußte.
Schon am nächsten Morgen schickte Bagrat eine Anzahl Kolchosarbeiter in die Berge, die mit dem Ausschachten des Kanalbettes anfangen sollten.
Bald gab es im ganzen Dorf nur noch ein Gesprächsthema:
»Das Wasser ist wieder da!«
Alle Dorfbewohner, ganz gleich ob alt oder jung, alle Männer und Frauen zogen mit Spaten und Spitzhacken zu den Abhängen des Dali-Dagh. Dorthin, wo sich einstmals das alte Flußbett der ,Großen Quelle' des Zaren Sardur befunden hatte.
Alle Hilfsmittel, um die Arbeit schnell zu vollenden, wurden angewendet. Sogar motorisierte Pflüge waren zur Stelle. Als die Sonne aufging, war die Arbeit schon im vollen Gange. Den Motorpflügen folgten die Arbeiter und vertieften und ebneten mit Spitzhacke, Spaten und Schaufel das alte Bett des Kanals.
Und wieder geht's zu den Schwarzen Felsen
Es dämmerte. Als Asmik an diesem Morgen erwachte, war die gestrige Last, die Sorge um Kamo und den Großvater, von ihr gewichen.
Leicht und froh warf sie die Decke zurück, sprang auf und kleidete sich rasch an. Sie mußte zu Kamo. Aber zu so früher Stunde wollte sie doch nicht allein hingehen. Und deshalb holte sie zuerst Grikor ab.
»Kommst du mit zu Kamo?«
Grikor war sofort bereit...
Kamos Mutter öffnete, legte aber warnend den Finger an die Lippen und flüsterte:
»Pscht! Er schläft.«
»Laß ihn schlafen, Mütterchen, er hat es nötig«, antwortete Grikor. »Asmik, du kommst mit mir nach Hause.«
Auch Armjon und Seto fanden sich bald darauf bei Grikor ein.
»Wir wollen Kamo abholen«, schlug Armjon vor.
»Nein, er schläft und darf nicht gestört werden.«
»Gut, soll er sich ausruhen. Wir müssen aber Artusch noch abholen, er wollte unbedingt mitkommen.«
Sie verließen das Haus.
»Wohin, Grikor?« rief ihm die Mutter nach.
»Zu den Schwarzen Felsen!« Er wußte, daß seine Mutter diesmal nichts einwenden würde.
Nachdem sie dann Artusch abgeholt hatten, schritten sie munter voran. Vor ihnen breitete sich das bekannte Bild aus: von der Sonne versengte, nach Wasser lechzende Felder und Wiesen!
Die Kolchosarbeiter waren mit der Verbreiterung und Vertiefung des alten Kanals gut vorwärtsgekommen. Wie ein breites, dunkles Band zog er sich die Abhänge des Dali-Dagh bis zu den Feldern hinunter. Die Arbeiter hatten während der Nacht wahre Wunder vollbracht — der Kanal war fast fertig!
Das war zum Teil das Verdienst des Vorsitzenden Bagrat, der die Arbeiter immer wieder anfeuerte:
»Schafft, schafft, Leute. Jeder muß sich vornehmen, vier Kubikmeter Erde auszuheben. .. Koste es, was es wolle — heute noch wird das Wasser in den Kanal geleitet.«