Asmik mußte nun doch herzlich lachen.
»Wir haben dich auch wirklich alle sehr lieb, Kamo«, versicherte sie lebhaft. »Aber was hast du da? Zeig mal deine Hand. «
»Nichts weiter, eine Schramme«, sagte Kamo und versuchte, seine Hand zu verstecken.
»Das muß dir doch weh tun. Armer Kerl!«
»Ach, nicht der Rede wert... Wenn die Mutter kommt, sage ich es ihr«, sagte Kamo rasch.
Aber Asmik hatte schon ein sauberes Taschentuch genommen, feuchtete es an, legte es auf und umwickelte die Hand mit einem Handtuch.
Kamo ließ alles widerspruchslos über sich ergehen. Er verfolgte jede Bewegung des Mädchens mit zärtlichen Blicken. Nach einer Weile erneuerte Asmik den Umschlag. »Nun erzähle weiter, Kamo«, bat sie.
»Als ich begriffen hatte, was geschehen war, war mein erster Gedanke: Asmik wird geweint haben! Und weißt du — darüber freute ich mich.«
»Gefreut hast du dich, weil du mich zum Weinen gebracht hast?... «
»Ja... du tatest mir aber auch leid, und ich dachte: du mußt rasch gesund werden, damit Asmik wieder froh ist ...« Asmik sah den Freund zärtlich an.
Nach einer Pause sagte sie:
»Was hast du dir eigentlich gedacht, als Großvater Assatur neben dir die Kostbarkeiten ausschüttete? Hast du gesehen, was es für prachtvolle Geschmeide waren? ... Gewiß hat sie früher die Fürstin Anaid getragen... Ich konnte mich nicht satt daran sehen.. . «
Den ganzen Tag blieb Asmik bei Kamo sitzen, wechselte die Umschläge und plauderte mit ihm.
Gegen Abend wurden im Flur Schritte laut, die Tür wurde geräuschvoll aufgerissen, Armjon, Grikor, Seto und Artusch stürzten ins Zimmer.
»Ihr seid mir ja die Richtigen. Wir werden in die Hölle geschickt, und ihr drückt euch und macht es euch hier gemütlich!« rief Grikor und fuhr, zu Asmik gewandt, lachend fort: »Du hast uns ein schönes Theater vorgespielt, hast gezittert und gebarmt — ,Ich friere so!'«
Kamo wurde von den Freunden umringt und fröhlich begrüßt.
Erst jetzt hatte er bemerkt, daß Artusch mit dabei war. Er stand verlegen in einer Ecke des Zimmers neben dem Schrank und drehte seine Mütze in den Händen. Wie die anderen, war er mit Staub und Erde bedeckt.
Über Kamos lebhaftes Gesicht huschte ein Schatten. Asmik merkte es, und sie kam Artusch zu Hilfe.
»Hier«, sagte sie, »siehst du ein neues Mitglied unserer ,Vereinigung junger Naturforscher'. Artusch arbeitet mit uns in der Höhle und vertritt dich. Seine ganzen dummen Streiche tun ihm schrecklich leid, und wir haben ihm alle verziehen. Du wirst ihm doch auch verzeihen, Kamo?« bettelte sie.
Kamo war viel zu gutherzig, als daß er nicht allen Menschen freundlich entgegengekommen wäre.
Als daher Artusch näher kam, um Kamo um Verzeihung zu bitten, legte dieser ihm schnell die Hand auf den Mund und sagte in herzlichem Ton:
»Laß gut sein, Artusch. Wir werden von jetzt ab gute Freunde sein. Ich hab's mir schon lange gewünscht.«
Und die Jungen umarmten sich.
Armjon fragte:
»Wie fühlst du dich denn, Kamo?«, und er griff nach der Hand des Freundes.
»Im Kopf ist noch ein dumpfes Gefühl, aber sonst geht's mir gut. «
»Kein Wunder!« lachte Grikor. »Wenn ich eine solche Pflegerin hätte!« - Er sah Asmik schmunzelnd an. »Mein Bein wäre in zwei Tagen gesund... Ehrenwort! «
»Hör auf, Grikor, hör schon auf!« zürnte Asmik und zupfte Grikor an seinen schwarzen Locken. »Ich gebe dir mein Wort, daß ich dich pflegen werde, wenn du dich endlich zu der Operation entschließt und dein Bein von den Ärzten geradebiegen läßt. «
»Wie ist es mit dem Wasser?« wollte Kamo nun wissen.
»Das Wasser wird kommen, wir arbeiten daran... Heute sind wir beim Graben bis zu einer riesigen Steinplatte vor-gestoßen«, sagte Grikor. »Direkt darunter ist das Wasser, das steht fest. Der Stein muß gesprengt werden — und das Wasser wird wie eine Fontäne herausschießen. «
Kamo richtete sich aufgeregt im Bett hoch:
»Warum haben sich andere in diese Sache eingemischt? Wir haben das Wasser gefunden, und wir müssen es auch sein, von denen das Dorf Wasser bekommt. Versteht ihr — von uns, den Jungpionieren. Es wäre eine Schande, wenn uns irgend jemand zuvorkäme. Für uns ist das eine Frage der Ehre.«
»Wir allein hätten es nicht so schnell geschafft, Kamo, und Eile tut not«, erklärte Armjon. »Es war schon recht von ihnen, uns zu Hilfe zu kommen. Wenn das Wasser noch zwei oder drei Tage ausbleibt, geht die Ernte gänzlich zugrunde.«
»Wo sind jetzt das Dynamit, die Kapseln und die Zündschnüre?« fragte Kamo.
»Alles, was zum Sprengen gebraucht wird, ist in der Höhle«, antwortete Grikor.
»Das ist gut, sehr gut«, sagte Kamo. »Ich weiß nun Bescheid.«
Kamo reitet zum Dali-Dagh
Der Morgen war noch nicht angebrochen; im Dorfe Litschk lag alles noch in tiefem, festem Schlaf.
Ein junger Mann ritt auf einem scheckigen, kleinen Pferdchen durch die Morgendämmerung. Am Sattel war ein Ruck-sack befestigt. Es ging im Trab auf die Schwarzen Felsen zu. Verstohlen blickte der junge Mann alle Augenblicke zurück. Er schien Angst zu haben, man könnte ihn einholen. Offenbar wollte er nicht gesehen werden, denn etwas Geheimnisvolles lag in seinem ganzen Gebaren.
Als Pferd und Reiter die vom Blitz getroffene Eiche erreicht hatten, saß der junge Mann ab, band das Pferd fest, nahm den Rucksack und kletterte zum Felsen hinauf.
Auf dem Gipfel angekommen, blieb er stehen und warf einen prüfenden Blick nach unten.
Im Osten begann es Tag zu werden. Die Sterne verloschen, einzig die Venus strahlte noch hell am Himmel.
Im hohen Schilf des Gilli-Sees erwachte das Leben. Ein leichter Morgenwind wehte von den Gipfeln des Dali-Dagh herab und kräuselte den glatten Wasserspiegel des Sewan. Die große Wasserfläche veränderte von Minute zu Minute ihre Farbe und wurde immer lichter.
Wie schön ist das Leben! dachte der junge Mann. Wie herrlich ist die Natur. Welch eine Freude ist es, zu leben und das alles genießen zu dürfen!
Gierig sog er die frische Morgenluft ein. Er lebte, hatte teil an dieser hellen, wundervollen Welt! Um wieviel schöner, um wieviel begehrenswerter kam sie ihm jetzt vor, nachdem er so nahe am Tode vorbeigekommen war. Sicherlich konnte niemand so wie er in diesem Augenblick den Wert des Lebens empfinden und das Leben lieben...
Die Strickleiter, die an einem Felsblock befestigt war, hing an ihrem Platz. Die Ausflüge zur ,Höllenpforte' waren so zur Regel geworden, daß die Leiter gar nicht mehr abgenommen wurde.
Der junge Mann kletterte in der gewohnten Weise hinab und betrat die Höhle. Als er das laute Rauschen des Wassers hörte, klopfte sein Herz vor Freude. Was vor kurzem noch tief im Felsen, unbestimmbar und geheimnisvoll zu hören gewesen war, klang jetzt laut und gebieterisch. Es erschütterte den Granitfelsen. Kein Zweifel, dicht unter der Oberfläche, fast zum Greifen nahe, toste ein reißender Strom. Als Kamo — denn er war es, der sich so früh aufgemacht hatte — die zweite Höhle betrat, sah er, welche gewaltige Arbeit hier in den letzten bei-den Tagen geleistet worden war.
Nachdem er eine Laterne angezündet hatte, stieg er in die Mulde und hieb mit einer Spitzhacke auf den felsigen Boden ein. — Immer deutlicher drang das Rauschen des Wassers an sein Ohr.
Das Dorf war eben erst erwacht, als sich Grikor, Armjon, Seto und Asmik schon den Schwarzen Felsen näherten.
Doch noch ehe die jungen Freunde ihr Ziel erreicht hatten, klang aus dem Innern des Berges eine gewaltige Detonation. Durch den Höhlenausgang wälzten sich dicke Rauchwolken ins Freie.
Was bedeutete das? War dort oben der Teufel am Werk?... Keiner von den dreien kam auf den Gedanken, daß es Kamo sein könnte, der gestern noch krank im Bett gelegen hatte. Wie sollte er denn in der Nacht allein auf die Schwarzen Felsen gelangen; und wo sollte er nach seinem Unfall die Kräfte her-nehmen, um die angefangene Arbeit zu vollenden?