»Und wenn das Wasser aber gar nicht in den Gilli fließt, sondern in eine andere Richtung?« fragte Seto.
»Gerade um das zu erfahren, müssen wir den Versuch machen. Deshalb paßt Kamo ja unten am See auf. Er wartet auf eine Botschaft von uns. Wir werden es also versuchen. Du, Grikor, nimm die Spitzhacke und fang an, wir werden die Steine heranschaffen und aufschichten. Los, Freunde!«
Mit der Fertigkeit eines sachkundigen Maurers schlug Grikor mit einigen kräftigen Hieben ein Loch in die Zementwand.
»Wenn ich da reinklettere«, rief Grikor, »werde ich im Gilli wieder auftauchen?«
»Versuche es doch, wir werden ja sehen...«
»Das wäre eine schöne Geschichte!« sagte Artusch.
»Kamo steht mit dem Fotoapparat und wartet. Plötzlich — ein fürchterliches Brüllen, eine Wassersäule schießt in die Höhe, und auf der Spitze sitzt unser Grikor. Aber lieber nicht, Kamo würde vor Schreck das Knipsen vergessen.«
»Wißt ihr was«, rief Grikor, »ich schicke Kamo meine Mütze; da wird er sich aber wundern«, und er schleuderte seine alte Mütze in den Spalt.
Die Jungen lachten, dann sagte Armjon:
»Seto, bringe die Säcke.«
Das Stroh wurde in den Felsspalt geschüttet, und die Jungen füllten das Becken mit Steinen, um das Wasser abzudämmen.
Rasch stieg das Wasser bis an den Rand, und als es den Spalt erreicht hatte, ergoß es sich tosend in sein altes Flußbett, das unter der Erde lag und von dem niemand genau wußte, wohin es führte.
Der Felsen erbebte unter dem ungeheuren Druck des Wassers.
Die Jungen warteten etwa eine Viertelstunde und nahmen dann die Steine wieder aus dem Becken heraus. Der Wasserspiegel senkte sich. Wieder floß das Wasser dem Ausgang der Höhle zu und stürzte in silberschäumenden Kaskaden in die Schlucht hinab.
»Kommt«, sagte Armjon, »hier oben sind wir fertig.«
Naß und schmutzig traten die jungen Forscher den Rückweg an. Das blendende Sonnenlicht eines strahlend schönen Augustnachmittags umfing sie, als sie ins Freie kamen.
Der „Wassermann“ brüllt zum letzten Male
Kamo stand auf einem Haufen trockenen Schilfes. Vor ihm lag der Gilli-See im prächtigen bunten Herbstgewand.
Die Schilfwände an den Ufern des Sees und die verstreuten Schilfinselchen leuchteten gelblichgrün.
Ringsum war es still.
Es schien Kamo, als sei der Wasserspiegel stark gesunken. Wovon mochte das kommen? Von der Hitze und Dürre des Sommers, oder vielleicht dadurch, daß der Zufluß aus dem Innern der Schwarzen Felsen aufgehört hatte? Das Schilf hatte sich gelichtet; auf der kleinen Insel war es dürr und gelb, und Kamo drang ohne besondere Mühe zu der Stelle vor, an der er damals beinahe ertrunken wäre.
Tschambar stand neben ihm. Mit gespitzten Ohren folgte' er Kamos Blicken und betrachtete aufmerksam die Gegend.
Der Hund schaute mißmutig drein, als wollte er fragen: Welchen Sinn hat es, hier so untätig herumzustehen? ... Den Zauber des in der Sonne flimmernden Wassers und der herbstlichen Farbenpracht konnte Tschambar nicht mitempfinden. Das überstieg die Grenzen seines Hundeverstandes.
Kamo sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei.
Er nahm den Fotoapparat aus dem Futteral und prüfte, ob alles in Ordnung sei. Reglos stand er da und hielt den Apparat auf die Mitte des Sees gerichtet.
Die Zeit kam ihm sehr lang vor. Kamo, der sowieso nicht gern wartete, wurde ungeduldig.
Ruhig und friedlich lag der See vor ihm. Nur hin und wieder kräuselte ein leiser Windhauch die glatte Wasserfläche. Damals, im Frühling, war der See bewegt gewesen, große Wasserblasen und Ringe hatten sich gebildet, sie liefen aus-einander und waren schließlich am Ufer zerflossen.
Und heute! - Vom ,Wassermann' keine Spur. Höchstens der Schatten eines Raubvogels, der über den See strich und nach Beute Ausschau hielt, huschte flüchtig über den glatten Wasserspiegel.
Es war so still und so friedlich, daß Kamo sein Herz schlagen hörte. Die Füße schliefen ihm ein, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Angespannt starrte er auf die Seemitte hinaus.
Plötzlich geriet der See in Bewegung. Es brodelte, große Blasen stiegen auf, sie platzten und hinterließen Ringe, die sich allmählich im Wasser verliefen. Plötzlich stieg wie ein riesiger Pilz in der Mitte des Sees eine ungeheure Wasserblase hoch, und gleichzeitig ertönte das schreckliche Gebrüll des ,Wassermanns'.
Wellen schlugen hoch, liefen auseinander und zerschellten leise plätschernd an den Ufern.
Tschambar war aufgesprungen. Mit wütendem Gebell wandte er sich dem unbekannten Gegner zu.
Kamo war befriedigt, und er murmelte vor sich hin: »Du hast aufgehört, ein Rätsel zu sein, und kannst uns nicht mehr erschrecken. Wir wissen, was mit dir los ist.«
Eine Menge Stroh trieb auf dem Wasser umher, und Kamo sah noch irgend etwas Dunkles — vielleicht ein Igel oder ein totes Wasserhuhn? —, es wurde immer näher ans Ufer getrieben.
»Das ist ja eine Mütze!« rief Kamo erstaunt aus. »Wie kommt denn die hierher?«
Er brach ein Schilfrohr ab und fischte sie heraus.
Tschambar hatte sich sofort auf die Mütze gestürzt; er entriß sie Kamos Händen und beschnupperte sie von allen Seiten. Dann blickte er den Jungen aus seinen klugen Augen an, als wenn er sagen wollte: Schau sie dir nur einmal richtig an, fällt dir nichts auf?
»Das ist ja Grikors Mütze!« rief Kamo aus. »Tschamba-ruschka, Guter, was ist mit unserem Grikor geschehen?«
Dieser Zwischenfall beunruhigte Kamo sehr. War etwas passiert? Hastig kehrte er zum Boot zurück und fuhr zu der Insel, auf der er Asmik und den Großvater zurückgelassen hatte.
»Erzähle, was war los? ... Das Brüllen haben wir gehört.« Asmik überschüttete Kamo mit Fragen. »Was hast du gesehen? Wie sieht der ,Wassermann' aus?«
Asmiks Ungeduld war so groß, daß sie es gar nicht abwarten konnte. Kamo berichtete, was er beobachtet hatte. »Doch das alles ist Nebensache, Großväterchen«, rief er. »Wichtig ist, daß hinterher Stroh an der Oberfläche trieb. Das haben die Freunde mit in die Höhle genommen.«
»Du meinst also, die Wassersäule kommt von den Schwarzen Felsen her?« fragte der Großvater ehrlich erstaunt.
»Ja, von den Schwarzen Felsen... Oder, richtiger gesagt, vom Dali-Dagh, aus dem Gebirgssee.«
»So, und über den Gevatter Mukel und seinen Knotenstock habt ihr euch lustig gemacht! Nun stimmt es also doch. Und der ,Wassermann'?«
»Großväterchen, du hast doch alles verstanden? Von welchem ,Wassermann' redest du?«
»Ja, wer brüllt denn?«
»Das Gebrüll hängt mit dem Wasser zusammen... Danach wollen wir aber lieber Aram Michailowitsch und Armjon fragen; die werden uns genau erklären, wodurch es entsteht.«
»Ja, sie werden es wissen. Aber warum brüllt denn das Wasser nicht, wenn es aus einer Quelle herausfließt?« fragte Asmik.
Der Großvater strich nachdenklich seinen Bart. Alles, was er sich im Laufe seines langen Lebens im Kopfe zurechtgelegt hatte, erwies sich als falsch, und das war schwer zu begreifen.
»Asmik hat recht«, sagte er. »Weshalb soll das Wasser brüllen, das aus dem Berg sprudelt? Dahinter steckt doch etwas anderes.. . « Und der Alte schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Weshalb siehst du so sorgenvoll aus, Kamo?« fragte Asmik. »Du hast doch eben eine große Entdeckung gemacht, und du freust dich gar nicht?«
»Ja! Ich habe Grikors Mütze im See aufgefischt. Und das läßt mir keine Ruhe.«