Die Raumanzüge von zwei der neun Unfallopfer waren in kleinen Stücken abgeschnitten worden, um eventuell darunterliegende Verletzungen nicht zu verschlimmern. Murchison und Dodds zogen einen dritten Verletzten aus, ohne den Anzug zu zerschneiden, und Naydrad befreite gerade — ebenfalls auf normale Weise — einen vierten von seinem Anzug.
Ohne Conway Gelegenheit zu geben, die unausweichliche Frage zu stellen, sagte Murchison: „Laut Lieutenant Dodds sprechen alle Anzeichen dafür, daß diese Männer bereits luftdicht in ihren Raumanzügen eingeschlossen und fest an ihre Liegen geschnallt waren, bevor die Kollision stattfand. Anfangs hab ich diese Ansicht nicht geteilt. Aber dann haben wir die ersten beiden ausgezogen und keine Verletzungen gefunden, nicht einmal Prellungen.! Und am Anzugstoff haben wir an den Stellen, die dem Sitz der Sicherheitsgurte entsprechen, Scheuerspuren entdeckt.
Dem Röntgenscanner fehlt zwar die Bildschärfe, wenn er einen Raumanzug durchdringen muß“, fuhr sie fort und hielt den Verletzten unter den Armen, um ihn zu stützen, während Dodds vorsichtig an den Beinen des Anzugs zog, „doch ist das Bild allemal deutlich genug, um Frakturen oder schwere innere Verletzungen zu erkennen, aber es gibt keine. Deshalb bin ich zu der Überzeugung gekommen, die Anzüge wegzuschneiden ist nur unnötige Zeitverschwendung.“
„.und Verschwendung von wertvollem Diensteigentum“, fügte Dodds mit Nachdruck hinzu. Für einen raumfahrenden Offizier des Monitorkorps war ein Raumanzug weit mehr als nur ein Teil der Ausrüstung; er entsprach einem warmen, enganliegenden und schützenden Mütterleib. Mit ansehen zu müssen, wie sie absichtlich in kleine Stücke zerschnitten wurden, mußte für ihn so etwas wie ein traumatisches Erlebnis sein.
„Aber wenn niemand verletzt ist“, fragte Conway, „was, zum Teufel, stimmt dann nicht mit denen?“
Murchison war gerade mit dem Halsverschluß am Anzug des Manns beschäftigt und antwortete, ohne aufzublicken: „Ich weiß es nicht.“
„Nicht einmal eine vorläufige Diagno…?“ begann Conway seine Frage.
„Nein“, unterbrach sie ihn scharf und fuhr dann in etwas ruhigerem Ton fort: „Als Doktor Priliclas empathische Fähigkeiten die Tatsache bewiesen hatten, daß niemand in akuter Todesgefahr schwebt, haben wir beschlossen, daß Diagnose und Behandlung warten können, bis sie alle aus ihren Anzügen heraus sind. Deshalb war unsere Voruntersuchung, vorsichtig ausgedrückt, nur sehr oberflächlich. Alles, was ich weiß, ist, daß die Nachricht über Sübraumfünk korrekt war — die Besatzung ist außer Gefecht gesetzt, aber nicht verletzt.“
Prilicla, der die ganze Zeit still über den zwei ausgezogenen Patienten geschwebt hatte, beteiligte sich jetzt zaghaft am Gespräch, indem er sagte: „Das stimmt, mein Freund. Ich bin über den Zustand dieser Lebewesen genauso verwirrt wie die anderen. Ich hatte mit schweren Verletzungen gerechnet, finde statt dessen aber etwas vor, das Ähnlichkeit mit einer Infektionskrankheit hat. Vielleicht werden Sie, mein Freund, als Mitglied derselben Spezies, die Symptome erkennen.“
„Tut mir leid, ich wollte niemanden kritisieren“, entschuldigte sich Conway unbeholfen und fügte dann hinzu: „Ich werde Ihnen bei dem da helfen, Naydrad.“
Kaum hatte er dem Mann den Helm abgenommen, konnte er sehen, daß dessen Gesicht rot angelaufen und schweißüberströmt war. Er hatte erhöhte Temperatur und eine ausgeprägte Photophobie — eine Lichtscheu also, die erklärte, warum der Lichtschutz am Visier angebracht worden war. Das Haar war naß und klebte an Stirn und Schädel des Mannes, als würde er gerade aus dem Wasser kommen. Das Trockenmittel im Anzug konnte die übermäßige Feuchtigkeit nicht mehr absorbieren, so daß die Gesichtsschutzscheibe durch die Kondensation undurchsichtig geworden war. Aus diesem Grund hatte Conway auch den am Kragenteil befestigten Medikamentenspender erst bemerkt, als der Helm abgenommen wurde. Die Verabreichung des Medikaments erfolgte in der üblichen Form mittels eines durchsichtigen, eßbaren Plastikschlauchs, der in bestimmten Zeitabständen abgebissen wurde und in jedem Abschnitt eine einzelne, mit einem Farbcode versehene Kapsel enthielt.
„Hat irgendeiner der anderen Helme auch dieses Medikament gegen Übelkeit enthalten?“ fragte Conway.
„Bisher alle, Doktor“, antwortete Naydrad, deren vier Greiforgane unabhängig voneinander mit den Anzugverschlüssen beschäftigt waren, während ihre Augen nach oben rollten, um Conway anzusehen. Sie fuhr fort: „Der Verletzte, den wir zuerst ausgezogen haben, wies Symptome von Übelkeit auf, als ich Druck auf den Bauchbereich ausübte. Zu diesem Zeitpunkt war der Patient allerdings nicht bei vollem Bewußtsein, und das, was er sagte, war für eine Übersetzung nicht zusammenhängend genug.“
Prilicla pflichtete ihr bei, indem er sagte: „Die emotionale Ausstrahlung ist typisch für ein Wesen im Delirium, das wahrscheinlich durch die erhöhte Temperatur verursacht wird, mein Freund. Ich hab auch unregelmäßige und unkoordinierte Bewegungen beobachtet, die ebenfalls symptomatisch für ein Delirium sind.“
„Das sehe ich auch so“, entgegnete Conway. Aber wodurch wurde es verursacht? Die letzte Frage stellte er nicht laut, weil er die Antwort darauf nicht kannte. Und er hatte die düstere Vorahnung, daß selbst eine wirklich gründliche Untersuchung zu keinem Ergebnis führen würde. Schließlich half er der Oberschwester, die schweißgetränkte Kleidung des Patienten auszuziehen.
Alles deutete auf einen Hitzschlag und einen damit verbundenen Wasserentzug hin, was auch in Anbetracht der hohen Temperatur des Patienten und des damit verbundenen Verlusts an Körperflüssigkeit zu erwarten war. Sanftes Abtasten des Bauchbereichs erzeugte bei dem Patienten ein unwillkürliches Würgen, obwohl der Magen, soweit Conway erkennen konnte, keine Fremdstoffe enthielt, und der Mann seit mehr als vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte.
Der Pulsschlag war ein wenig erhöht, aber regelmäßig, die Atmung hingegen war ungleichmäßig und mit der Tendenz zu stoßweise auftretendem Husten. Als Conway den Rachen untersuchte, entdeckte er eine schwere Entzündung, und der Scanner zeigte an, daß sie sich über die Bronchien hinweg bis in die Brusthöhle hinein erstreckte. Er überprüfte Zunge und Lippen auf Schadspuren von giftigen oder ätzenden Substanzen. Dabei stellte er fest, daß das Gesicht des Mannes entgegen seiner ersten Annahme nicht nur vom Schwitzen naß war; die Tränendrüsen sonderten ständig Flüssigkeit ab, und auch aus der Nase kam ein schleimiger Ausfluß. Schließlich suchte Conway nach Anzeichen von Strahlenschäden oder nach Hinweisen auf die Inhalation radioaktiver Substanzen, aber erneut fiel das Ergebnis negativ aus.
„Captain! Hier Conway“, sagte er plötzlich. „Würden Sie Lieutenant Chen bitte sagen, er möchte während seiner Suche nach dem vermißten Offizier, von der Luft, den Nahrungsmitteln und den flüssigen Verbrauchsartikeln auf der Tenelphi Proben nehmen? Könnte er des weiteren nach Anhaltspunkten für ein Leck im Lebenserhaltungssystem Ausschau halten, aus dem ein fester oder flüssiger Giftstoff entweicht? Die luftdicht verschlossenen Proben möchte er dann so schnell wie möglich Pathologin Murchison zur Analyse bringen. Geht das?“
„Wird erledigt“, antwortete Fletcher. „Chen, haben Sie mitgehört?“