„Der Ansicht bin ich auch, mein Freund“, erwiderte Prilicla, der bereits den Korridor entlang auf die Öffnung zuschwebte. „Selten hab ich einem Ihrer Vorschläge mit größerer Begeisterung zugestimmt.“
Die erste Überraschung, die Conway erwartete, als er durch die Luftschleuse ging, war das Licht. Er fand sich plötzlich in einer weitläufigen Raumflucht wieder, die, nach den an Boden, Decke und Wänden befestigten Überbleibseln der Ausrüstungsgegenstände zu urteilen, einst den Aufenthalts- und Freizeitbereich des Schiffs dargestellt hatte. Die Geräte, die man zum Trainieren in der Schwerelosigkeit und vielleicht auch für Wettkampfsportarten benutzt hatte, waren rigoros modifiziert worden, um als Gestelle und Ständer für die zum Schlaf in der Schwerelosigkeit notwendigen Doppelhängematten zu dienen. Abgesehen von einigen Abschnitten, die mit durchsichtigem Plastik verkleidet waren und Pflanzen enthielten, von denen einige noch immer eine grüne Färbung hatten, war die Innenfläche des riesigen Saals mit Betten und Möbelstücken übersät, die man den Bedingungen der Schwerelosigkeit angepaßt hatte. Es sah aus, als seien hier nach den ersten Meteoriteneinschlägen einst bis zu zweihundert Überlebende zusammen mit ihren Nachkommen einquartiert worden. Den äußeren Anzeichen nach zu urteilen, hatten sie hier eine lange Zeit gelebt. Die zweite Überraschung war, daß es von ihnen keine anderen Spuren gab als die von ihnen benutzen Möbel und Ausrüstungsgegenstände. Wo aber waren die Leichname der Überlebenden der Katastrophe, die schon seit langem tot sein mußten?
Conway spürte, wie seine Kopfhaut vor Aufregung kribbelte. Er drehte seinen Anzuglautsprecher voll auf und schrie: „Sutherland!“
Es kam keine Antwort.
Er stieß sich quer durch den Saal zur gegenüberliegenden Wand ab, in der sich zwei Türen befanden. Eine davon stand einen Spaltbreit offen, und aus ihr drang Licht. Als er neben der Tür landete, wußte er, daß sich dahinter die Schiffsbibliothek befand.
Das lag nicht nur an den mit Büchern und Bandspulen ordentlich gefüllten Regalen, die sich an den Wänden und der Decke des leeren Raums entlangzogen, oder an den am Boden befestigten Lesegeräten und Scannern, und erst recht nicht an den modernen Bändern und tragbaren Aufzeichnungsgeräten, die die Offiziere der Tenelphi mit hierhergebracht hatten und die jetzt herren- und schwerelos durch den Raum trieben. Conway wußte auch so, daß es sich um die Bibliothek handelte, weil er sowohl den Schriftzug auf der Tür als auch den Namen unter dem Schiffswappen entziffern konnte, das an der gegenüberliegenden Wand in Augenhöhe angebracht war. Als er auf dieses berühmte Wappen starrte, wurde ihm augenblicklich alles klar.
Er begriff jetzt, warum die Tenelphi Schwierigkeiten bekommen hatte, und warum die Offiziere von ihrem Schiff zum Wrack aufgebrochen waren und nur den Arzt als wachhabenden Offizier zurückgelassen hatten. Er verstand auch, warum sie es so eilig gehabt hatten, an Bord ihres eigenen Schiffs zurückzukehren, warum sie krank geworden waren und warum es so wenig gab, was er oder irgend jemand anders für sie hätte tun können. Außerdem wußte er nun, warum Schiffsarzt Sutherland Schmiermittel statt Markierungsfarbe benutzt hatte, und er besaß eine ungefähre Vorstellung von der Situation, mit der sich der Arzt konfrontiert gesehen und die ihn zurück ins Wrack getrieben hatte. All das war ihm klargeworden, weil der Name und das Wappen des Schiffs in jedem Geschichtsbuch der Erde und auch in jedem der von Menschen besiedelten Planeten abgedruckt waren.
Conway schluckte und blinzelte den Schleier in den Augen weg, der vorübergehend seine Sicht beeinträchtigte hatte, und verließ langsam den Raum.
Der Schriftzug auf der anderen Tür hatte einst „Sportausrüstungslager“ gelautet, man hatte ihn jedoch durchgestrichen und darüber „Lazarett“ geschrieben. Als er die Tür aufschob, fand er den Raum dahinter ebenfalls erleuchtet vor, wenn auch nur schwach.
An den Wänden zu beiden Seiten der Tür waren die Borde der Ausrüstungsregale zu Kojen umfunktioniert worden, von denen zwei belegt waren. Die darin liegenden Leichen waren fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt und völlig deformiert, was zum einem an der Unterernährung und zum anderen daran lag, daß sie unter schwerelosen Bedingungen geboren worden waren und gelebt hatten. Anders als die ausgetrockneten Leichenteile, auf die Conway und Prilicla auf den äußeren Decks gestoßen waren, waren diese beiden der Atmosphäre ausgesetzt gewesen, und die Verwesung hatte eingesetzt. Doch war dieser Prozeß noch nicht weit genug fortgeschritten, um die Tatsache verschleiern zu können, daß die beiden Leichen der Klassifikation DBDG angehört hatten. Es handelte sich um einen alten Mann und ein kleines Mädchen, beide Terrestrier, die erst in den letzten paar Monaten gestorben sein mußten.
Conway dachte an die Reise, die fast sieben Jahrhunderte gedauert hatte, und an die letzten beiden Überlebenden, die es fast geschafft hätten, und er mußte erneut blinzeln. Verärgert bewegte er sich weiter in den Raum hinein, indem er sich an der Kante eines Behandlungstischs und eines Instrumentenschranks entlangzog. Sein Scheinwerfer beleuchtete in einer entfernten Ecke eine Gestalt im Raumanzug, die in der linken Hand einen fast quadratischen Gegenstand hielt, während sie sich mit der rechten gegen eine geöffnete Schranktür stützte.
„S. Sütherland?“ fragte Conway.
Die Gestalt zuckte zusammen und antwortete mit schwacher Stimme: „Nicht so verdammt laut.“
Conway stellte seinen Lautsprecher leiser und sagte schnelclass="underline" „Ich bin froh, daß ich Sie gefunden habe, Doktor. Ich bin Doktor Conway aus dem Orbit Hospital. Wir müssen sie schnell zum Ambulanzschiff zurückbringen. Die haben da Schwierigkeiten und wir.“
Er brach den Satz ab, da Sütherland sich weigerte, die Schranktür loszulassen. Beruhigend führ Conway fort: „Ich weiß, warum Sie gelbes Schmiermittel statt Farbe benutzt haben, und ich hab meinen Helm nicht geöffnet. Uns ist bekannt, daß in anderen Teilen des Schiffs noch Druck herrscht. Gibt es irgendwelche Überlebende? Und haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben, Doktor?“
Sütherland sagte nichts, bis sie das Schiffslazarett verlassen hatten und die Tür hinter ihnen geschlossen war. Er öffnete sein Visier, wischte die Feuchtigkeit ab, die sich als Perlen auf der Innenseite niedergeschlagen hatte, und sagte schwach: „Gott sei Dank erinnert sich noch jemand an die Geschichte. Nein, Doktor, es gibt keine Überlebenden. Ich hab sämtliche mit Luft gefüllten Kammern durchsucht. Eine davon ist eine Art Begräbnisstätte für nicht eßbare Überreste. Ich glaube, diese bedauernswerten Geschöpfe waren am Schluß zum Kannibalismus gezwungen und mußten ihre Toten irgendwo lagern, wo sie. na ja. griffbereit lagen. Und auch ihre zweite Frage muß ich mit einem Nein beantworten. Ich hab nicht gefunden, wonach ich gesucht hab, sondern nur ein Mittel entdeckt, womit man die Krankheit zwar erkennen, nicht aber heilen kann. Die Haltbarkeit aller angezeigten Medikamente ist bereits vor Hunderten von Jahren abgelaufen…“ Er fuchtelte mit einem Buch in der Hand herum und fuhr fort: „Ich mußte hier drinnen einige engbedruckte Seiten lesen, deshalb hab ich den Luftdruck in meinem Anzug erhöht, um so in der Luft vorhandene Krankheitserreger wegzublasen, wenn ich das Visier öffnen mußte, weil ich mir etwas genauer ansehen wollte. Theoretisch hätte es funktionieren müssen.“
Offensichtlich hatte es aber nicht funktioniert. Trotz des höheren Innendrucks im Anzug, der die Luft durch die Visieröffnung nach außen geblasen hatte, war der Schiffsarzt an derselben Krankheit erkrankt, die sich auch seine Offizierskameraden zugezogen hatten. Er schwitzte übermäßig, blinzelte im Licht und seine Augen tränten, aber im Gegensatz zu den übrigen Offizieren der Tenelphi war er weder im Delirium noch bewußtlos — jedenfalls bis jetzt nicht.