Nur selten hatte Conway so viele medizinische Kapazitäten auf solch engem Raum konzentriert gesehen.
Sie alle machten bereitwillig Platz, als das Transportteam die Patientin unter Thornnastors persönlicher Aufsicht von der Drucktragbahre auf den Untersuchungstisch legte. Man ließ die Trage geöffnet und rollte sie wieder zum Eingang der Station, damit sie nicht im Weg stand, woraufhin sämtliche Anwesenden an den Untersuchungstisch näher herantraten.
Conway wußte, daß Murchison und Naydrad jetzt auf dem Bildschirm der Rhabwar die von Thornnastor begonnene Voruntersuchung beobachteten, die in jeder Hinsicht mit der schon von Murchison und Conway auf dem Ambulanzschiff durchgeführten identisch war. Der leitende Diagnostiker der Pathologie überprüfte sorgfältig die Lebenszeichen, obwohl sich selbst zu diesem Zeitpunkt noch niemand sicher sein konnte, welcher Puls, Blutdruck und welche Atmungsfrequenz für einen DBPK eigentlich normal war. Danach tastete er die Patientin ausführlich und bis in die Tiefen des Körpers hinein mit dem Scanner ab und führte eine vorsichtige Untersuchung auf körperliche Verletzungen und Deformierungen durch. Für die vielen Ärzte, die über die Unterrichtskanäle zusahen, beschrieb Thornnastor jeden Schritt in allen Einzelheiten und erläuterte sämtliche Befunde und Schlußfolgerungen. Hin und wieder hielt er inne und stellte Murchison auf dem Ambulanzschiff oder Conway auf der Station Fragen, die zumeist den Zustand der Patientin unmittelbar nach deren Bergung betrafen oder um möglicherweise hilfreiche Tips zu bekommen.
Immerhin hatte Thornnastor seine unangefochtene Stellung als Chefpathologe nur erreicht, indem er Fragen gestellt und über deren Antworten nachgedacht hatte, anstatt nur sich selbst zuzuhören.
Schließlich beendete Thornnastor die Untersuchung. Der Chefdiagnostiker richtete seinen gewaltigen Körper zu voller Größe auf, wobei das knöcherne Schädeldach über dem Gehirn fast vollständig zwischen den Wölbungen der drei riesigen Schultern verschwand. Die vier Stielaugen, die wie ein Teleskop ausgefahren werden konnten, betrachteten gleichzeitig die Patientin, die um den Untersuchungstisch stehenden Ärzte und die aufgestellten Kameras, durch die Murchison und Naydrad an Bord der Rhabwar und die restlichen, nicht anwesenden Zuschauer die Vorgänge mitverfolgten. Dann teilte er seine Erkenntnisse mit.
Die schwersten Verletzungen hatte die Lunge der Patientin davongetragen, in der durch die Auswirkungen der Dekompression Zellgewebe geplatzt und ausgedehnte Blutungen hervorgerufen worden waren. Thornnastor beabsichtigte, diese Situation zu entschärfen, indem er mittels eines kleineren chirurgischen Eingriffs die Flüssigkeit durch die Brusthöhle absaugen wollte. Zusätzlich hatte er vor, einen Luftröhrenschnitt vorzunehmen, um so durch Zuführ von reinem Sauerstoff die Atmung der Patientin zu unterstützen. Für warmblütige Sauerstoffatmer stand dem Orbit Hospital zwar ein breitgefächertes Angebot an Medikamenten zur Regeneration von Zellgewebe zur Verfügung, aber um herauszufinden, welches dieser Mittel für die DBPK-Spezies geeignet gewesen wäre, hätten aufwendige Tests vorgenommen werden müssen, die wenigstens zwei Tage in Anspruch genommen hätten. Ohne einen sofortigen chirurgischen Eingriff würde die Patientin aber nicht mehr länger als zwei Stunden leben. Bei keiner der von Thornnastor vorgeschlagenen Maßnahmen handelte es sich um langwierige Prozeduren, und die damit verbundenen Schmerzen würden minimal sein. Da nach Priliclas Worten die Patientin zudem in zu tiefer Bewußtlosigkeit lag, um überhaupt Schmerzen empfinden zu können, wollte der Chefpathologe mit der Assistenz eines melfanischen Chefarztes und einer kelgianischen Operationsschwester unverzüglich mit dem Eingriff beginnen.
Unter Berücksichtigung des Zustands der Patientin hielt Conway das ebenfalls für die einzig richtige Maßnahme. Es ärgerte ihn allerdings, daß die Operation ohne seine Assistenz durchgeführt werden sollte, schließlich hatte er bereits Erfahrungen mit der DBPK-Lebensform gesammelt. Aber dann konnte er dem respektvollen Geflüster der Zuschauer entnehmen, daß es sich bei dem assistierenden melfanischen Chefarzt um Edanelt handelte, der unwidersprochen als einer der besten ET-Chirurgen des Orbit Hospitals galt. Edanelt hatte ständig vier Schulungsbänder im Kopf gespeichert und stand Gerüchten zufolge kurz vor der Beförderung zum Diagnostiker. Wenn ein Chirurg vom Rang eines Edanelt zum Assistieren gerade gut genug war, dann sollte Conway wenigstens dazu in der Lage sein, bei der Operation auch ohne die Ausstrahlung von allzu großen Neidgefühlen zuzusehen.
Trotz der vielen hundert, von Tralthanern durchgeführten Operationen, die Conway schon mitverfolgt hatte, wunderte er sich immer wieder, wie solch eine riesige und körperlich unbeholfene Spezies die besten Chirurgen der Föderation hatte hervorbringen können. Die DBPK-Patientin ahnte gar nicht, was für ein Glück sie hatte. Denn im Orbit Hospital sagte man, daß kein auch noch so hoffnungslos erkranktes Wesen jemals verloren war,
wenn es unter der persönlichen Obhut von Thornnastor stand. Der Diagnostiker selbst soll einmal dazu gesagt haben, daß so etwas schon deshalb vollkommen undenkbar sei, weil davon überhaupt nichts in seinem Vertrag stünde.
„Sie kommt wieder zu Bewußtsein“, meldete Prilicla keine zehn Minuten nach Beendigung der Operation plötzlich. „Und zwar sehr schnell.“
Thornnastor gab einen geräuschvollen und unübersetzbaren Laut von sich, der wahrscheinlich Freude und Genugtuung ausdrückte, und sagte dann: „Ein so schnelles Ansprechen auf die Behandlung läßt eine vielversprechende Prognose zu und deutet meiner Meinung nach auf eine frühzeitige Genesung der Patientin hin. Aber wir sollten ein bißchen weiter vom Tisch zurücktreten. Denn obwohl ein Angehöriger einer raumreisenden Spezies an den Anblick anderer Lebensformen gewöhnt sein sollte, könnte unsere Patientin in ihrem geschwächten Zustand durch die unmittelbare Nähe einer Gruppe solch großer und unterschiedlicher Wesen wie uns doch einen gehörigen Schrecken bekommen. Meinen Sie nicht auch, Doktor Prilicla.?“
Aber der kleine Empath hatte zu einer Antwort keine Gelegenheit mehr, denn die Patientin öffnete gerade die Augen und kämpfte so gewaltsam gegen die Körpergurte an, daß der in der Luftröhre steckende Schlauch herauszurutschen drohte.
Instinktiv griff Thornnastor über die Patientin, um den Luftschlauch festzuhalten, doch dadurch geriet die DBPK in nur noch größere Panik. Ihre Angst war so groß, daß der für Emotionen empfängliche und an der Decke haftende Prilicla durch sein ungemein heftiges Zittern Gefahr lief abzustürzen. Plötzlich versteifte sich die Patientin und blieb mehrere Minuten lang vollkommen regungslos liegen. Aber als der Cinrussker Mitgefühl und Beruhigung ausstrahlte, entspannte sie sich allmählich wieder.
„Danke schön, Doktor Prilicla“, sagte Thornnastor. „Wenn wir die Verständigung hergestellt haben, werde ich mich wohl bei der Patientin entschuldigen müssen, daß ich sie fast zu Tode erschreckt hab. Versuchen Sie ihr in der Zwischenzeit unser Wohlwollen klarzumachen.“
„Natürlich, Freund Thornnastor“, entgegnete der Empath. „Mittlerweile empfindet sie keine panische Angst mehr, sondern ist eher besorgt. Sie scheint über irgend etwas zutiefst beunruhigt zu sein, das ich.“ Prilicla brach den Satz ab und fing wieder heftig zu zittern an.
Dann geschah etwas vollkommen Unmögliches.
Thornnastor geriet auf seinen sechs stämmigen Beinen, die den Angehörigen der tralthanischen Spezies normalerweise einen so festen Stand gaben, daß sie häufig sogar im Stehen schliefen, gehörig ins Schwanken, dann stürzte er kopfüber auf die Seite, wobei das dadurch entstandene Geräusch Conways Anzugmikrofon total überlastete. Ein paar Meter vom Behandlungstisch entfernt, sank der Melfaner Edanelt, Thornnastors Assistent, langsam zu Boden. Seine sechs mit vielen Gelenken versehenen Beine wurden zunehmend schlaffer, bis er schließlich mit der Unterseite seines Ektoskelett geräuschvoll auf den Boden schlug. Auch die kelgianische Operationsschwester war zu Boden geglitten, während der silbrige Pelz auf dem langen, zylindrischen Körper wogte und Falten warf, als würde über ihn ein kleiner Wirbelstum toben. Ein neben Conway stehendes Mitglied des Transportteams fiel kraftlos auf Hände und Knie, kroch noch ein kurzes Stück über den Boden, rollte schließlich auf die Seite und krümmte sich zusammen. Aus Conways Translator kam jetzt kein einziges verständliches Wort mehr, da viel zu viele ETs gleichzeitig sprachen und die Terrestrier sie noch zu übertönen versuchten.