Sie blickten in einen breiten, niedrigen Tunnel, dessen Abmessungen nur wenig größer als die der Alienkörper waren. Auch hier war die Sichtweite eingeschränkt, weil der Tunnel genauso wie der hinter ihnen liegende Gang der Krümmung des Schiffs folgte. Der Tunnelboden war von der Öffnung aus ungefähr vierzig Zentimeter weit vollkommen glatt, an der Decke hingegen befanden sich genau die gleichen, mit Blindenschrift gekennzeichneten Schalter wie in der Luftschleuse. Kontrollampen oder optische Displays fehlten natürlich völlig. Kurz hinter diesem Bereich verschwand die Tunneldecke, und dort konnte man deutlich das erste Steuerpult sehen.
Von der Form her ähnelte es einem runden, elliptisch unterteilten Sandwich. Die dadurch um den Rand herum entstehende Öffnung ermöglichte der blinden Besatzung den Zugang. Conway und Fletcher konnten an den Innenseiten des Sandwiches Hunderte von Schaltern und auf den Außenflächen Kabelstränge und Leitungen sehen, die die Schalter mit den von ihnen gesteuerten Mechanismen verbanden. Der Großteil dieser Kabelstränge führte zur Schiffsmitte, während sich die restlichen zur Ober- und Unterseite des Rumpfs schlängelten. Ein paar wenige verliefen zum Schiffsrand. Eine farbliche Kennzeichnung der Kabel war nicht auszumachen, aber in die Kabelmäntel waren verschiedene Muster eingeprägt und eingestanzt, die für blinde, auf den Tastsinn angewiesene Techniker dieselbe Funktion wie Farbcodierungen erfüllten. Hinter dem ersten Steuerpult war noch ein zweites zu sehen.
„Ich kann zwar nur zwei Steuerpulte deutlich erkennen, aber wie wir wissen, besteht die Besatzung aus mindestens drei Mitgliedern“, sagte Fletcher. „Der Überlebende befindet sich wahrscheinlich hinter dieser Kurve und ist deshalb nicht zu sehen. Wenn wir uns bloß durch den Tunnel quetschen könnten.“
„Das ist physikalisch unmöglich“, warf Conway ein.
„… ohne bei jedem Schritt an Schalter zu kommen und sämtliche Schiffssysteme anzuschalten“, fuhr Fletcher unbeirrt fort. „Ich frage mich, warum diese trotz ihrer Blindheit anscheinend nicht dummen Wesen so dicht am Käfig eines gefährlichen, gefangenen Tiers ein Steuerpult aufgestellt haben. Damit sind die doch ein großes Risiko eingegangen.“
„Wenn die Aliens das Tier schon nicht im Auge behalten konnten, dann mußten sie wenigstens nahe mit ihm in Verbindung bleiben“, entgegnete Conway trocken.
„Sollte das etwa ein Witz sein?“ entgegnete Fletcher mißbilligend, während er einen der Handschuhe auszog und den Arm in die Öffnung steckte. Ein paar Sekunden später berichtete er: „Ich glaube, ich kann den Schalter fühlen, den wir beim Herausziehen des blinden Aliens ausgelöst haben. Ich drücke jetzt mal drauf.“
Sofort meldete Chens Stimme auf der Anzugfrequenz: „Dicht neben der ersten fährt jetzt eine zweite Antenne aus, Sir.“
„Oh, Entschuldigung“, antwortete Fletcher. Während er mit den Fingern über die extraterrestrischen Schalter und Knöpfe tastete, nahm sein Gesicht einen Moment lang einen äußerst konzentrierten Ausdruck an, und kurz darauf meldete Chen das Verschwinden beider Antennen. Der Captain lächelte und fuhr fort: „Angenommen, die Bedienungselemente sind zweckmäßig in Gruppen angeordnet, und die Schalter für Energie, die Lagesteuerung, das Lebenserhaltungssystem, die Kommunikation und so weiter liegen an ihren eigenen, ganz bestimmten Stellen des Steuerpults, dann würde ich sagen, der blinde Alien hat im Sterben die Kommunikationsschalttafel berührt. Er hat es noch geschafft, die Notsignalbake auszusetzen, und das war wahrscheinlich auch das letzte, was er in seinem Leben noch tun konnte.
Ach, Doktor, könnten Sie mir wohl mal bitte die Hand reichen?“ fragte er Conway.
Conway streckte dem Captain die Hand hin, um ihm Halt zu geben und wieder auf die Beine zu helfen, während Fletcher die andere Hand vorsichtig aus der Öffnung zog. Plötzlich rutschte einer seiner Fußmagneten über den Boden. Instinktiv warf er zur Vermeidung eines Sturzes den freien Arm nach hinten — obwohl er in der Schwerelosigkeit gar nicht fallen konnte — und stieß dabei die Hand in den Bereich der Schalter zurück.
„Ich hab irgendwas berührt“, meldete er besorgt.
„Das kann man wohl sagen“, bestätigte Conway und deutete auf den vergitterten Gangabschnitt.
„Sir!“ rief Haslam über Funk. „Wir registrieren starke, periodisch auftretende Vibrationen in der gesamten Schiffskonstruktion, auch metallische Geräusche!“
Murchison kam von der Luftschleuse durch den Gang herbeigeeilt und bremste sich geschickt an der Wand ab. „Was ist denn los?“ fragte sie. Dann sah auch sie in den Käfiggang und fragte noch maclass="underline" „Was passiert denn da?“
Bis in den letzten noch einsehbaren Winkel hatte in dem gekrümmten Gang eine heftige und lautstarke mechanische Tätigkeit eingesetzt. Die aus den Wandschlitzen ragenden Metallstangen schlugen bis an die Grenzen ihrer Bewegungsfreiheit vor und zurück oder auf und nieder, während die Stäbe mit den spitzen oder morgensternartigen Enden von der Decke wie Kolben hoch- und herunterstießen. Mehrere der Stangen und Kolben waren stark verbogen und schlugen gegeneinander, und das war auch der Grund für den Höllenlärm. Während sie noch diesem Spektakel zusahen, öffnete sich ein paar Meter hinter dem Gitter in der Innenbordwand des Gangs eine kleine Klappe, aus der eine dickem Porridge ähnelnde Masse herausgepreßt wurde, die wie ein mißgebildeter Fußball der nächsten, wild hin- und herschwingenden Stange in den Weg rollte.
Die Substanz spritzte in alle Richtungen, und die kleineren Stückchen wurden von den restlichen Stangen und Kolben zerstampft, bis die Masse wie ein dichter Hagelschauer über dem Gang umherwirbelte. Murchison füllte etwas davon in einen Probenbeutel ab.
„Das ist offenbar eine Art Fütterspender“, sagte sie. „Aus einer Analyse dieser Substanz werden wir eine Menge über den Stoffwechsel der großen ETs erfahren. Meiner Ansicht nach sind diese Stangen und Kolben kein Mittel zum Aufhalten des FSOJs — es sei denn, zum Aufhalten gehört das Knüppeln bis zur Bewußtlosigkeit.“
„Wenn man keinen leistungsstarken Pressorstrahl einsetzen kann, ist das bei so einer Klassifikation wie FSOJ vielleicht die einzige Möglichkeit“, erwiderte Conway nachdenklich.
„Trotzdem, meine Sympathie für die blinden Aliens hat merklich nachgelassen“, fuhr Murchison fort. „Der Gang hier sieht schon mehr nach einer Folterkammer als nach einem Käfig aus.“
Conway hatte bereits den gleichen Eindruck gehabt, und auch dem Captain mußte, seinem erschütterten und bestürzten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, dieser Gedanke durch den Kopf gegangen sein. Sie alle hatten gelernt und waren überzeugt, daß es so etwas wie eine von Grund auf böse und feindselige intelligente Spezies überhaupt nicht gab. Schon die bloße Andeutung, etwas Derartiges für möglich zu halten, würde zur Entlassung aus dem Monitorkorps oder dem größten Hospital der Föderation mit vielfältigen Umweltbedingungen führen. Extraterrestrier waren anders, manchmal sogar vollkommen und auf direkt unheimliche Weise anders. Im Anfangsstadium eines Kontakts war bis zum vollen Verständnis der physiologischen, psychologischen und kulturellen Zusammenhänge ein großes Maß an Vorsicht erforderlich. Doch so etwas wie eine böse Spezies gab es nicht. Vielleicht böse und asoziale Individuen, doch niemals eine böse Spezies als Ganzes.
Jede Spezies, die sich bis zu dem Punkt sozialer und technologischer Zusammenarbeit entwickelt hatte, daß ihr interstellare Raumreisen möglich waren, mußte zivilisiert sein. Das war die feste und ernsthafte Überzeugung der fortschrittlichsten, auf den Körpern von ungefähr sechzig verschiedenen Lebensformen sitzenden Köpfen der Föderation. Conway war zwar nie im Leben auch nur im geringsten fremdenfeindlich eingestellt gewesen, aber er war auch nicht völlig davon überzeugt, daß es nicht doch irgendwo die berühmte Ausnahme gab, die die Regel bestätigte.