Murchison und Fletcher starrten ihn an, als wäre aus dem Arzt mit einem Schlag ein geistesgestörter Patient geworden. Doch für Erklärungen blieb keine Zeit.
„Wir sind mit dem Telepathen schon einmal über eine größere Entfernung als jetzt in Kontakt getreten“, sagte Conway langsam, wobei er die Worte mit großer Sorgfalt wählte. „Jetzt befindet er sich in der Nähe, und wir müssen es noch einmal versuchen. Diesem Wesen bleibt nur noch so wenig Zeit.“
„Das Wesen Conway hat recht“, bestätigte eine lautlose Stimme in ihren Köpfen. „Ich hab nur noch sehr wenig Zeit.“
„Und die dürfen wir nicht vergeuden“, sagte Conway in eindringlichem Ton. Er blickte Murchison und Fletcher flehentlich an und fuhr fort: „Ich glaube, einige der Antworten zu kennen, aber wir müssen noch viel mehr herausbekommen, wenn wir wirklich in der Lage sein wollen zu helfen. Denkt mal scharf nach. Was sind die blinden Aliens? Wer und was sind die Beschützer? Warum sind sie so wertvoll für die.“
Und auf einmal wußten sie es.
Der Grund dafür war nicht das langsame, stete Rinnsal von Mitteilungen durch das gesprochene Wort, sondern ein großer, klarer Informationsfluß, der ihre Gehirne mit sämtlichen Kenntnissen über die Spezies von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart füllte.
Die blinden Aliens…
Die Vorfahren dieser Lebewesen waren kleine, im Urschlamm des Planeten wühlende Plattwürmer ohne Sehvermögen gewesen, die größtenteils von Aas gelebt, oftmals jedoch auch größere Lebensformen durch ihren Stachel erst gelähmt und dann stückweise gefressen hatten. Sie entwickelten sich zu blinden Jägern, deren Tastsinn sich so fein ausbildete, daß sie keinen anderen Sinneskanal mehr benötigten.
Durch spezialisierte Fühler besaßen sie die Fähigkeit, die Bewegungen ihrer Beute auf der Oberfläche zu erfühlen, ihre charakteristischen Schwingungen zu identifizieren und knapp unter dem Boden auf sie zu lauern, bis diese in Reichweite ihres Stachels kamen. Mit Hilfe anderer Fühler konnten sie aber auch Spuren auf der Oberfläche erkunden und identifizieren, folgten ihrem Opfer über weite Entfernungen zu dessen Lagerstätte und gruben sich dann entweder in die Erde ein, um ihre Beute von unten zu stechen, oder griffen ihr Opfer direkt an, wenn dessen Innenschwingungen verrieten, daß es schlief. Gegen einen sehenden Gegner bei vollem Bewußtsein konnten sie auf der Oberfläche natürlich nicht viel ausrichten, und deshalb waren sie häufig selbst vom Jäger zum Gejagten geworden. Aus diesem Grund konzentrierte sich ihre Jagdstrategie auf verschiedene taktische Varianten des Hinterhalts.
Auf der Oberfläche bildeten sie Spuren und andere Kennzeichen kleiner Tiere nach, und diese Nachahmungen lockten dann größere Beutetiere in ihre Fallen. Doch die Oberflächentiere waren immer größer und stärker geworden, weshalb ihnen der Stachel eines einzigen Verfahrens der blinden Aliens nicht mehr ernsthaft schaden konnte. Deshalb waren die blinden Wesen zum gemeinsamen Handeln gezwungen, um immer kompliziertere Hinterhalte zu legen, und diese Zusammenarbeit bei den ehrgeizigeren Unternehmungen zur Nahrungsbeschaffung führte wiederum zu sich ausweitenden Kontakten, dem Bau unterirdischer Nahrungslager, der Gründung von Gemeinden, Städten und Großstädten sowie der Einrichtung von sie miteinander verbindenden Kommunikationssystemen. Die Aliens „unterhielten“ sich bereits miteinander, unterrichteten ihre Jungen durch körperliche Kontaktaufnahme und ersannen Methoden, mit denen man Schwingungen verstärken und über weite Strecken erfühlen konnte.
Die blinden Aliens konnten Schwingungen im Boden und in der Atmosphäre fühlen und schließlich „spürten“ sie durch den Einsatz von Verstärkern und Transformatoren sogar Licht. Sie entdeckten das Feuer, erfanden das Rad und den Gebrauch von Funkfrequenzen durch die Umwandlung in ein ertastbares Medium, und schon bald war der Planet mit Funkbaken überzogen, die ihnen lange Reisen mit mechanisch betriebenen Transportmitteln ermöglichten. Obwohl sie die Vorteile des motorbetriebenen Fliegens kannten — sehr viele blinde Aliens waren bei Flugversuchen ums Leben gekommen —, blieben sie doch lieber mit dem Boden in Berührung, weil sie schließlich absolut nichts sehen konnten.
Das bedeutete jedoch nicht, daß sie sich ihres Mangels nicht bewußt waren. Praktisch jedes nichtintelligente Geschöpf auf dem Planeten besaß die ihnen unbekannte Fähigkeit zur genauen Navigation sowohl über kurze als auch über lange Entfernungen, ohne die Windrichtung oder die durch von entfernten Gegenständen abprallenden Schwingungen erzeugten Luftverwirbelungen erfühlen zu müssen. Aber die blinden Aliens wußten nicht genau, was dieses Sehvermögen überhaupt sein könnte. Gleichzeitig wurden sie sich jedoch durch die steigende Differenziertheit ihres weitreichenden Fühlungssystems vieler und komplizierter Schwingungen bewußt, die sie von außerhalb ihrer eigenen Welt erreichten. Es gab also vernunftbegabte Wesen mit wahrscheinlich viel größerem Wissen, von denen diese leichten Berührungen ausgingen. Diese Wesen könnten ihnen vielleicht beim Erlangen dieses Sinnes helfen, den anscheinend außer ihnen selbst alle Lebewesen besaßen.
Noch unendlich viele blinde Aliens bezahlten ihr Vortasten in die Luft und ins All zu den Schwesterplaneten mit dem Leben, doch schließlich lernten sie den Flug zu den Sternen, die sie nicht sehen konnten. Unter großen Schwierigkeiten und mit immer weniger Hoffnung suchten sie nach intelligentem Leben, spürten vergebens Planet um Planet auf, bis sie zuletzt den Planeten fanden, auf dem die Beschützer der Ungeborenen lebten.
Die Beschützer…
Diese Wesen hatten sich in einer Welt aus flachen, dampfenden Meeren, Sümpfen und Urwäldern entwickelt, in der es, was körperliche Beweglichkeit und Angriffslust anging, keine eindeutige Grenze zwischen tierischem und pflanzlichem Leben gab. Um überhaupt zu überleben, mußte sich eine Lebensform schnell fortbewegen, und die dominante Spezies auf diesem Planeten eroberte sich ihren Platz, indem sie sich mit größerem Überlebenspotential wehrte, fortbewegte und vermehrte als sämtliche anderen Lebensformen.
Schon auf einer sehr frühen Evolütionsstufe hatte sie die große Härte ihrer Umwelt in eine physiologische Form gezwungen, die den lebenswichtigen Organen größtmöglichen Schütz bot. Gehirn, Herz, Lunge, Gebärmutter — sie alle befanden sich tief im äußerst muskulösen, gepanzerten Körper und waren auf ein relativ geringes Volumen zusammengepreßt. Während der Schwangerschaft kam es zu einer beachtlichen Verschiebung der Organe, weil der Embryo vor der Geburt fast bis zur Reife heranwachsen mußte. Es kam nur selten vor, daß einer der Beschützer mehr als drei Geburten überlebte. Ein alternder Elternteil war normalerweise zu schwach, um sich gegen den Angriff des Letztgeborenen zu verteidigen.
Aber der Hauptgrund für den Aufstieg der Beschützer zur dominanten Lebensform des Planeten war, daß die Jungen schon vor der Geburt über Bildung und Erfahrungen mit den Überlebenstechniken verfügten. Am Anfang ihrer Evolution hatte diese Entwicklung auf genetischer Ebene als einfache Vererbung von vielen komplexen Überlebensinstinkten begonnen,
aber das enge Nebeneinander der Gehirne des Elternteils und des sich entwickelnden Embryos führte zu einer ähnlichen Wirkung wie bei der Auslösung der mit Gedanken in Verbindung gebrachten elektrochemischen Vorgänge. Die Embryos entwickelten die Fähigkeit zur Telepathie über kurze Strecken und empfingen alles, was das Elternteil sah oder spürte. Und noch vor dem Wachstumsende des Embryos entstand in diesem der nächste Embryo, der sich ebenfalls in zunehmendem Maße der Welt außerhalb seines selbstbefruchtenden Großelternteils bewußt war. Schließlich vergrößerte sich die telepathische Reichweite und ermöglichte die Kommunikation zwischen Embryos, deren Elternteile sich in Sichtweite zueinander befanden.
Um die Schäden an den inneren Organen des Elternteils auf ein Minimum zu reduzieren, war der heranwachsende Embryo in der Gebärmutter gelähmt. Durch die vor der Geburt stattfindende Aufhebung der Lähmung verlor der Embryo allerdings sowohl die Intelligenz als auch die Fähigkeit zur Telepathie. Denn ein durch die Fähigkeit zu denken gehandikapter neugeborener Beschützer hätte in seiner unglaublich grausamen Umwelt nicht lange überleben können.