Wie Conway wußte, war Prilicla jedoch nicht abgeneigt zu lügen, wenn er dadurch die emotionale Atmosphäre einer Situation verbessern konnte. Er tat das allerdings nicht, wenn eine solche Besserung nur kurzfristig anhielt, und daraufhin sogar noch stärkere Gefühle des Ärgers und der Enttäuschung folgten.
„Und wie kommen Sie darauf, Doktor?“ fragte Conway. „Sie haben das Wort „wahrscheinlich“ und nicht „möglich“ verwandt. Haben Sie irgendwelche Insiderinformationen?“
„Das stimmt allerdings, mein Freund“, antwortete der Cinrussker. „Ich hab eine emotionale Strahlungsquelle geortet, die vor einigen Minuten das Vorzimmer betreten hat. Sie entspringt den Gefühlen unseres Chefpsychologen und strahlt Entschlossenheit mit einer Art gedämpfter Besorgnis aus, wie sie bei Wesen typisch ist, auf denen Verantwortung lastet. Ich kann aber keine Gefühle entdecken, die vorhanden sein müßten, wenn man vorhat, jemandem eine unangenehme Neuigkeit beizubringen. Im Moment spricht Major O'Mara mit einem seiner Assistenten, der sich ebenfalls keines latenten unangenehmen Gefühls bewußt ist.“
Conway lächelte und entgegnete: „Danke, Doktor. Jetzt fühle ich mich schon wesentlich besser.“
„Ich weiß“, antwortete Prilicla.
„Und ich hab das Gefühl, daß eine solche Debatte über die Gefühle des Wesens O'Mara an eine Verletzung des medizinischen Berufsethos grenzt“, sagte Schwester Naydrad. „Emotionale Ausstrahlung ist zweifellos so etwas wie eine vertrauliche Mitteilung und sollte nicht auf diese Weise verbreitet werden.“
„Vielleicht haben Sie die Tatsache nicht berücksichtigt, daß es sich bei dem Wesen, über dessen emotionale Ausstrahlung wir sprechen, um keinen Patienten handelt, Freundin Naydrad“, entgegnete Prilicla, wobei er sich so ausdrückte, daß es ihm als Empathen gerade noch möglich war, einem anderen Wesen mitzuteilen, es sei im Unrecht. „Und in diesem Fall stellt Doktor Conway das einem Patienten am meisten ähnelnde Wesen dar, da er sich um seine Zukunft sorgt und zu seiner Beruhigung eine Information über die emotionale Ausstrahlung Doktor O'Maras benötigt.“
Naydrads silbriges Fell sträubte sich und wogte; es zeigte somit an, daß die kelgianische Oberschwester antworten wollte. Doch in diesem Augenblick kam Dr. O'Mara aus dem Vorzimmer herein, und das Gespräch, das sich zu einer interessanten Diskussion über ethische Grundsätze hätte entwickeln können, fand ein vorzeitiges Ende.
Der Chefpsychologe nickte jedem der Reihe nach kurz zu und setzte sich in den einzigen weiteren physiologisch passenden Stuhl im Raum, nämlich in seinen eigenen.
In seiner typisch höhnischen Art sagte er: „Bevor ich Ihnen mitteile, warum ich gerade Sie vier gebeten hab, Major Fletcher zu begleiten, und Ihnen nähere Einzelheiten Ihres Auftrags mitteile, von denen Sie ohne Zweifel schon in ihren Grundzügen erfahren haben, muß ich Ihnen noch einige Hmtergoindinformationen nichtmedizinischer Natur geben.
Das Problem, Leute wie Sie in dieses Thema einzuführen, besteht darin, daß ich es mir nicht leisten kann, Vermutungen über den Grad Ihrer Unkenntnis in Bereichen außerhalb Ihrer Spezialgebiete anzustellen. Falls Ihnen einige dieser Informationen zu elementar sein sollten, dann können Sie natürlich Ihren Gedanken freien Lauf lassen, jedenfalls solange ich Sie dabei nicht erwische.“
„Sie haben unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, Freund O'Mara“, versicherte ihm Prilicla, der natürlich wußte, daß das eine Tatsache war.
„Jedenfalls vorläufig“, fügte Naydrad hinzu.
„Oberschwester Naydrad!“ platzte Major Fletcher heraus, dessen rot angelaufenes Gesicht in einem ausgesprochen unharmonischen Gegensatz zum Dunkelgrün seiner Uniform stand. „Sie sind einem ranghöheren Offizier gegenüber alles andere als respektvoll. Solch ein beleidigendes Benehmen werde ich auf meinem Schiff nicht dulden, und ich werde auch solch ein.“
O'Mara hob beschwichtigend die Hand. „Ich fühle mich nicht beleidigt, Major, und das sollten Sie sich auch nicht fühlen“, sagte er in ruhigem Ton. „Bis jetzt haben Sie während Ihrer Laufbahn noch nie einen engen persönlichen Kontakt mit Extraterrestriern gehabt, und deshalb ist Ihr Irrtum verständlich. Er wird sich wahrscheinlich auch nicht wiederholen, sobald Sie erst einmal gelernt haben, die Gedankengänge und Verhaltensweisen der Wesen zu verstehen, mit denen Sie an diesem Projekt zusammenarbeiten werden.
Oberschwester Naydrad ist eine Kelgianerin“, fuhr O'Mara in einem für seine Verhältnisse recht freundlichen Ton fort, „eine raupenähnliche Lebensform, deren hervorstechendstes Merkmal ein den ganzen Körper überziehendes silbergraues Fell ist. Sie werden bereits bemerkt haben, daß Naydrads Fell in ständiger Bewegung ist, als ob es durch einen stetigen Wind zu Büscheln und kleinen Wellen geblasen würde. Das sind vollkommen unwillkürliche Bewegungen, die von ihren Gefühlsreaktionen auf äußere Reize gesteuert werden. Die evolutionären Gründe für diesen Mechanismus sind nicht ganz klar, nicht einmal den Kelgianern selbst, doch es wird allgemein angenommen, daß der emotional ausdrucksfähige Pelz den kelgianischen Sprechapparat ergänzt, dem eine gewisse Flexibilität des Tonfalls fehlt. Sie müssen jedenfalls begreifen, daß die Bewegungen des Fells einem zweiten Kelgianer vollkommen klarmachen, was der erste bei dem Gesprächsthema empfindet. Deshalb sagen die Kelgianer immer genau das, was sie meinen; denn was sie denken, ist ganz offensichtlich — wenigstens für einen anderen Artgenossen. Sie können einfach nicht anders handeln. Im Gegensatz zu Doktor Prilicla, der immer freundlich ist und manchmal die Wahrheit zurechtstutzt und die unangenehmeren Fakten für sich behält, wird Schwester Naydrad ohne Rücksicht auf Ihren Rang und Ihre Gefühle stets die Wahrheit sagen. Sie werden sich bald daran gewöhnen, Major.
Aber eigentlich hatte ich nicht vor, einen Vortrag über Kelgianer zu halten. Vielmehr hatte ich vor, kurz über die Entstehung dessen zu sprechen, was jetzt die galaktische Föderation genannt wird.“
Auf dem Instruktionsschirm hinter ihm erschien plötzlich eine dreidimensionale Darstellung der galaktischen Doppelspirale mit ihren wichtigsten stellaren Eigenschaften und die Ausläufer einer benachbarten Galaxis, deren Entfernung man nicht einmal schätzen konnte. Während sie den Erläuterungen O'Maras zuhörten, erschien nah am Rand der Milchstraße eine kurze, helle Linie aus gelbem Licht, dann eine weitere, schließlich noch eine — die Verbindungen zwischen der Erde und den frühen Erdkolonien und den Systemen von Orligia und Nidia, den ersten extraterrestrischen Kulturen, mit denen man in Kontakt getreten war. Ein weiteres Bündel gelber Linien erschien und bezeichnete die Welten, die vom Planeten Traltha aus kolonialisiert oder kontaktiert worden waren.
Mehrere Jahrzehnte hatten vergehen müssen, bevor sich Orligianer, Nidianer, Tralthaner und Menschen ihre Planeten gegenseitig zugänglich gemacht hatten — zu jener Zeit neigten nämlich sämtliche beteiligten Wesen zu Mißtrauen, was in einem Fall sogar zu einem Krieg führte —, doch in diesem Bild wurde die verstrichene Zeit genauso wie die Entfernung komprimiert dargestellt.
Das Flechtwerk goldener Linien wurde rasch dichter, als zuerst Kontakte und dann Handelsbeziehungen mit den hochentwickelten und stabilen Kulturen von Kelgia, Illensa, Hudlar, Melf und deren eventuell vorhandenen angeschlossenen Kolonien aufgenommen wurden. Optisch gesehen handelte es sich dabei um keine geordnete Entwicklung. Die Linien schossen nach innen zum galaktischen Zentrum, kehrten wieder an den Rand zurück, bewegten sich zwischen Zenit und Nadir, und sprangen sogar mitten durch den intergalaktischen Raum, um sich mit den Planeten der Ianer zu verbinden, obwohl es in diesem Fall die Ianer gewesen waren, die mit den Reisen angefangen hatten. Als die Linien die Planeten der galaktischen Föderation verbanden, also die Planeten, von denen bekannt war, daß sie intelligentes und auf ihre eigene, manchmal recht eigentümliche Weise technisch und philosophisch hochentwickeltes Leben beheimateten, resultierte daraus ein unordentliches gelbes Gekritzel, das einer Kreuzung zwischen einem DNS-Molekül und einem Brombeerstrauch ähnelte.