Die Darstellung des verunglückten Schiffs wurde stetig größer, bis sie über den Bildschirmrand hinausging. Dann wurde die Vergrößerung schrittweise verringert, und plötzlich war das Schiff wieder klein: es wirkte wie die glänzende, silberne Gestalt einer Zigarre, die in der Dunkelheit hinund herrollte, und drei Kilometer dahinter befand sich der riesige, runde Körper des Wracks, das sich langsam wie ein verbeulter Metallmond drehte.
Im Augenblick schenkte dem Wrack allerdings niemand Beachtung, genausowenig wie Conway, der, nur um die anderen auf seine Gegenwart aufmerksam zu machen, sagte: „Die Tenelphi scheint nicht sonderlich beschädigt worden zu sein, nicht wahr?“
Zwar wurde er noch immer von niemandem beachtet, doch wurde seine Frage trotzdem beantwortet, indem sich die anderen miteinander unterhielten.
„Offensichtlich kein Frontalzusammenstoß“, stellte Fletcher fest. „Am Bug sind schwere Schäden entstanden, aber ich glaube, am meisten sind die Antennen und Sensoren in Mitleidenschaft gezogen worden, als die Tenelphi erst gegen das Wrack gestoßen und dann an ihm entlanggeschlittert ist. Wegen des vorherrschenden Dunstes kann ich allerdings nicht das gesamte Ausmaß der Schäden erkennen. Sie verliert immer noch eine Menge Luft.“
„Was aber durchaus bedeuten könnte, daß sie noch immer eine beträchtliche Menge Luft zu verlieren hat, Sir“, sagte Dodds.
„Fronttraktor- und — pressorstrahlen sind bereit.“
„Gut, drosseln Sie die Rotation und das Trudeln des Schiffs“, befahl der Captain. „Aber sanft. Der Rumpf wird an Stabilität verloren haben, und wir wollen ihn nicht auseinanderbrechen. Vielleicht tragen die an Bord keine Anzüge…“
Er ließ den Satz unbeendet, während sich Dodds starr über sein Pult beugte. Der Astronavigator konzentrierte sich mit aller Anstrengung auf seine Fingerspitzen, als er die immateriellen kegelförmigen Felder der Pressor- und Traktorstrahlen auf den Rumpf des havarierten Schiffs richtete und die Tenelphi neben der Rhabwar sanft und langsam zum Stillstand brachte. Auch in der Ruhelage waren Bug und Heck der Tenelphi noch immer von einem Dunstschleier entweichender Luft verhüllt, doch mittschiffs schien die Rumpfkonstruktion unversehrt geblieben zu sein.
„Sir“, meldete Haslam aufgeregt. „Die Mittschiffsschleuse ist unbeschädigt. Ich glaube, wir können andocken und… und an Bord gehen!“
… und die Verletzten in einem Bruchteil der Zeit evakuieren, die wir für einen Transport durch den freien Raum benötigt hätten, dachte Conway erleichtert. Für diejenigen, die bis jetzt hatten überleben können, war die medizinische Behandlung nun nur noch wenige Minuten entfernt.
Während er aufstand, verschloß und versiegelte er das Visier an seinem Helm.
„Ich werde das Andocken selbst durchführen“, sagte Fletcher nachdrücklich. „Sie beide gehen mit dem Doktor. Chen, Sie rühren sich nicht vom Fleck, bis Sie gerufen werden.“
Während sie in ihrer eigenen Mittschiffsschleuse standen, deren Innenluke hinter ihnen bereits geschlossen war, spürten sie die leichte Erschütterung der Rhabwar, als das Schiff Kontakt mit der Tenelphi herstellte. Dodds aktivierte die Außenluke, die zunächst langsam nach innen aufschwang und dann die nur wenige Zentimeter entfernte Außenfläche eines identischen Schotts enthüllte. In der Mitte der Luke der Tenelphi befand sich ein großer unregelmäßiger Fleck, anscheinend aus Farbe oder Öl, der schwarz und braun gesprenkelt war. Die Masse sah zerfurcht und blasig aus.
„Was ist das für ein Zeug?“ fragte Conway.
„Ich hab keine Ahnung…“, antwortete Haslam und streckte die Hand aus, um es zu berühren. Seine Finger hinterließen gelbliche Flecke, und an seinen Handschuhen blieb etwas von der Masse kleben. Schnell fügte er hinzu: „Es ist Schmiermittel, Doktor. Ich hab mich zuerst von der dunklen Farbe täuschen lassen. Meiner Meinung nach hat die Hitze der Bake das meiste weggeschmolzen und abgebrannt, und deshalb sieht der Rest so aus.“
„Schmiermittel also“, sagte Conway nachdenklich. „Und wie kommt es, daß irgendein Schmiermittel über die Außenhaut verteilt wird?“
Haslam klang ungeduldig, als er antwortete: „Wahrscheinlich hat sich während des Zusammenstoßes einer der Vorratskanister losgerissen und ist gegen die Luke geschleudert worden. An dem einen Ende eines solchen Kanisters ist ein Druckventil angebracht, das automatisch mehrere Gramm Schmiermittel ausgibt, wenn der Kanister mit ausreichender Kraft zusammengedrückt wird. Falls Sie sich dafür interessieren, Doktor, kann ich Ihnen später einen zeigen. Treten Sie bitte zurück, ich werde jetzt öffnen.“
Die Luke schwang auf, und Haslam, Conway und Dodds betraten die Schleusenkammer der Tenelphi. Haslam überprüfte die Kontrollinstrumente, während Dodds die Außenluke schloß. Der Innendruck des Schiffs war zwar gefährlich niedrig, für eine gesunde Person in guter körperlicher Verfassung jedoch keinesfalls tödlich. Was er allerdings bei einem ungeschützten Unfallopfer bewirken konnte, das sich womöglich in einem Schockzustand befand und an Auswirkungen der Dekompressionskrankheit litt, die den Blutverlust selbst bei nur oberflächlichen Schnitt- und Rißwunden beschleunigte, war eine ganz andere Sache. Plötzlich öffnete sich die Innenluke, wegen des Druckunterschieds blähten sich ihre Anzüge knirschend auf, und sie begaben sich schnell in das Schiffsinnere.
„Das glaube ich einfach nicht!“ rief Haslam entsetzt.
Die Schleusenvorkammer war mit Gestalten in Raumanzügen überfüllt, die frei an den Enden von Seilen oder Gurten umhertrieben, die an Ausrüstungshalterungen oder an anderen geeigneten Befestigungspunkten festgebunden waren. Das Notbeleuchtungssystem funktionierte noch, und es war ausreichend hell, um alle Einzelheiten der Gestalten erkennen zu können. So waren jedem Mann die Beine zusammengebunden und die Arme fest an den Seiten gefesselt worden. Zudem trug jeder zusätzliche Sauerstoffbehälter auf dem Rücken. Da alle ausschließlich schwere Raumanzüge aus sehr strapazierfähigem Material trugen, konnten die festen Gurte die darunterliegenden Gliedmaßen und Körperteile weder einschnüren, noch auf eventuell erlittene Wunden drücken. Überall wurden die Helmvisiere durch die fast undurchsichtigen Sonnenfilter verdeckt.
Conway drängte sich vorsichtig zwischen zwei der schwebenden Gestalten, und hielt einen der Körper fest. Vorsichtig schob er den Sonnenfilter am Helm des Schiffbrüchigen zurück. Zwar war die Innenseite des Visiers stark beschlagen, doch konnte er ein Gesicht erkennen, das übermäßig rot angelaufen war. Die Augen wurden bei den ersten eindringenden Lichtstrahlen sofort krampfartig zusammengekniffen. Er schob den Filter weiterer Unfallopfer zurück, stets mit demselben Resultat.
„Losbinden und sofort aufs Unfalldeck bringen!“ befahl Conway.
„Lassen Sie die Arm- und Beinfesseln erst einmal dran. So sind sie einfacher zu bewegen, und zudem stützen die Riemen eventuell gebrochene Gliedmaßen. Das ist doch nicht die komplette Crew, oder?“
Natürlich war das keine wirkliche Frage, denn irgend jemand mußte die Opfer ja zusammengebunden und für eine schnelle Evakuierung zur Luftschleuse der Tenelphi gebracht haben.
„Hier sind neun, Doktor“, antwortete Haslam nach einer schnellen Zählung. „Ein Besatzungsmitglied fehlt. Soll ich nach ihm suchen?“
„Jetzt nicht“, entgegnete Conway und dachte, daß sich der noch fehlende Offizier sehr umsichtig verhalten hatte: So hatte er zunächst eine Nachricht per Subraumfunk gesendet, dann eine Notsignalbake ausgesetzt, als der automatische Auslösungsmechanismus versagt hatte oder er ihn nicht hatte bedienen können, und schließlich hatte er seine Kameraden von ihren Posten aus den verschiedenen Teilen des Schiffs bis hierher zur Schleusenvorkammer gebracht. Es war nicht auszuschließen, daß er sich während dieser Aktionen seinen Raumanzug beschädigt hatte und notgedrungen irgendwo einen luftdichten Abschnitt aufsuchen mußte, um dort auf seine Rettung zu warten.
Conway schwor sich, daß der Mann, der all diese Dinge vollbracht hatte, auch gerettet werden mußte! Während er Haslam und Dodds half, die ersten Verletzten zur Rhabwar hinüberzubringen, beschrieb Conway per Funk dem medizinischen Personal auf dem Unfalldeck und dem Captain die Lage. Dann fragte er noch: „Prilicla, sind Sie dort drüben ein paar Minuten lang zu entbehren?“